Silber? ICH BIN IHR  SCHWEIGEN ist Gold!

Ein Krimicomic, ein Psychocomic, ein Spaniencomic, ein Frauencomic – schön, welches Menü uns ICH BIN IHR  SCHWEIGEN auftischt.

Der katalanische Comickünstler Jordi Lafebre, der seit 15 Jahren für den französischen Markt arbeitet, ist den meisten bekannt durch seine bislang sechsbändige Reihe WUNDERVOLLE SOMMER (bei Salleck Publications).

Dort arbeitet er unter dem Autoren Benoit Zidrou (Die neuen Abenteuer von RICK MASTER und die Marsupilami-BESTIE) und haucht dieser Serie dank seiner sonnigen Illustrationen pures Wohlgefühl ein.

Der Mann hat ein Händchen für klassisch-unaufgeregte Bilder in konventioneller Komposition, die jedoch mit ihren Figurenzeichnungen bezaubern. Vor allem seine Gesichter sind einfach magisch.
Mit wenigen Strichen charakterisiert er stolze Frauen, zerstreute Künstler, quirlige Kinder und aufbrausende Herren so treffsicher, dass wir diese Figuren sofort begreifen und akzeptieren.

Nun kommt Lafebre solo und kehrt zu seinen Wurzeln, nach Barcelona, zurück. Dort scheint seine Hauptfigur, Eva Rojas, gerade eine Dummheit zu begehen.

Die blonde Eva ist Psychiaterin – so wie der bärtige Herr, der sie vom Sims herunterredet. Eva ist auch nicht wirklich suizidal, sie ist ein kreativer Feuerkopf, eine kesse Person mit frechem Mundwerk, allerdings auch manisch-depressiv.

Sie hat ihr Leben zwar im Griff, ist jedoch unfähig, Bindungen einzugehen und verrennt sich in fixe Vorstellungen. Noch dazu hört sie Stimmen: Eva imaginiert sich Gespräche mit drei verstorbenen Verwandten – ihre Großmutter und zwei Großtanten, ebenfalls beachtliche Frauen (die eine hat ihre Ehe mit einem Torero per Messerstich beendet.)

Was die Psychiaterin da ihrem Psychiater anvertraut, ist die Rahmenhandlung für einen Krimi aus dem Industriellenmilieu: Eva nämlich ist von ihrer Patientin Penelope als Vertrauensperson zu einer Testamentsverlesung eingeladen worden.

Penelope ist Tochter des stinkreichen Monturós-Clans, in der ganzen Welt bekannt für seinen erlesenen Sekt, den Cava. Mit kühlem Sarkasmus beobachtet und seziert Eva die blasierte Familien-Blase – hier das Zusammentreffen mit Penelopes Mutter beim abendlichen Sektempfang (oder ist es eine Cava-Kanonade?):

Wenig später trifft Eva auf die männlichen Monturós-Mitglieder, allen voran Clanoberhaupt und Firmenchef Francesc. Sie drängt sich einfach in deren Mitte – und macht sich unbeliebt.

Achten Sie darauf, wie makellos Lafebre diesen Showdown inszeniert: Die hermetische Männergruppe, der sich Eva von außen nähert, sie mit einer Standardfrage aufbricht, dann den Boss erst mal spötteln lässt, um dann mit einer Doppelkombination aus verbalem Tiefschlag und übergriffiger Aktion als Siegerin hervorzugehen.

Besser geht’s nicht, kesser auch nicht:

Ich will ab nun nichts mehr zur Handlung sagen, um Ihnen den Lesespaß nicht zu verderben. Aber Hinweise darf ich geben: In dieser Nacht vor der Testamentsverlesung kommt jemand um! Was in der Familie Monturós die Verhältnisse tüchtig durcheinanderbringt.

Eva versteigt sich in die Idee, der Polizei bei den Ermittlungen helfen zu können. Und ist sogar so dreist, sich der zuständigen Kommissarin anzudienen. Die heißt ausgerechnet Alemany und erinnert Eva an Ex-Kanzlerin Angela Merkel.

Da Eva verbal weder Bremse noch Scheu kennt, tituliert sie die arme Frau auch so: „Merkel, wie geht’s?“
(Nicht auf dieser Seite, aber im Fortgang des Albums.)

Die Polizei wimmelt Eva ab, aber die macht einfach auf eigene Faust weiter!

Eva zieht los und verhört Verdächtige (ohne dafür die Erlaubnis zu haben), sie dringt bei Menschen ein und konfrontiert sie mit Anschuldigungen (ohne wirklich einen Schimmer zu haben, was Sache ist), sie unternimmt am Ende sogar eine krasse medizinische Untersuchung, die alle Grenzen des Normalen sprengt (ohne die leisesten Skrupel zu haben).

Autor Lafebre hat sich tief und lange in seinen Stoff reingekniet (man entnimmt es seinen Danksagungen am Ende des Buchs). Das wird mindestens zwei Jahre in der Mache gewesen sein, doch die Arbeit hat sich gelohnt.

ICH BIN IHR  SCHWEIGEN ist ein grandioser Comickrimi geworden: Er ist klassisch in seinen Motiven und modern in seinen Charakteren. Er treibt seine Handlung voran, verhält sich hingegen behutsam in seiner Erzählung. Er erlaubt sich Spaß mit seinen Figuren, stellt sie jedoch niemals bloß.

Krimis der absonderlichen Art

Bei der Lektüre erinnerte ich mich an „Das Auge“, einen wundervoll durchgeknallten Filmkrimi von 1983, in dem Michel Serrault einen manischen Privatdetektiv spielt, der rücksichtslos die irrige Idee verfolgt, eine von Isabell Adjani gespielte Serienmörderin sei seine verstorbene Tochter, die er mit allen Mitteln beschützen müsse.

Der Wahnsinn von Serraults Hauptfigur wird dank seiner sympathischen und saloppen Spielweise so zwingend logisch geschildert, dass wir als Betrachter uns in seiner Konstruktion mitverlieren.
(Heiße Empfehlung für einen skurrilen Krimi „neben der Spur“, der ungut viel Spaß macht!)

Auch ICH BIN IHR  SCHWEIGEN benutzt diese Perspektive und lässt uns mit Eva fiebern, auch wenn uns klar sein müsste, dass das prinzipiell nicht okay ist.

Das erlebt man nicht oft, das ist toll. Und Jordi Lafebre ist eine faszinierende Figur gelungen. Diese Eva Rojas ist nun etabliert als speziell talentierte Ermittlerin und könnte sich in eine Reihe mit Figuren wie „Monk“ oder Lisbeth Salander stellen.

Das kann gerne fortgesetzt werden – und vielleicht geschieht das auch.

Worauf ich allerdings nicht klarkomme, das ist der Titel: ICH BIN IHR  SCHWEIGEN?
Auch im Original heißt der Comic so (JE SUIS LEUR SILENCE), aber ich kapier’s nicht.
Mit dem „Ich“ muss ja Eva gemeint sein, aber die schweigt ja niemals und nirgends – und ihre Stimmen auch nicht.

ICH BIN IHR  SCHWEIGEN ist ein perfekter Titel für eine Holocaustüberlebenden-Geschichte, aber nicht für einen kauzigen „Barcelona-Krimi“ (so der hinzugesetzte, erklärende Untertitel). Ich hätte es RAMBAZAMBA AUF DER RAMBLA genannt: Stimmt zwar auch nicht, aber kommt der Sache irgendwie schon näher …

Zum Schluss noch der Link zur Verlagsseite bei Splitter sowie ein Dankeschön an Andreas Wolf, den lieben Kollegen vom Blog „DeinAntiHeld“, der mir das Werk empfahl!

Und zum Ausklang blättere ich noch in das Album hinein, aber ich bin nicht Ihr Schweigen, sondern sag noch was dazu:

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