Die Kunst des Gemetzels: VINYL

Hossa! Wie kompliziert kann man einen Comic erzählen? Wie dicht kann man eine Handlung komprimieren?
Das Wunder an VINYL besteht darin, dass ich ihn nicht überfrachtet finde und dass sich alle Fäden zufriedenstellend entwirren.

Aber es verlangt einiges an Genre-Expertise, um VINYL genießen zu können. Durch die ersten 30 Seiten musste ich durch – in der Hoffnung, im weiteren Verlauf zu kapieren, was hier eigentlich los ist!

Also: Vor einem Imbissstand sitzt FBI-Agent Dennis, im Funkkontakt mit Kollegin Victoria im Überwachungs-Van. Sie haben den Serienkiller Walter dorthin gelockt, um ihn festzunehmen.
Walter ist Vinyschallplatten-Fan und hört seine Lieblingssongs in Dauerschleife auf einem MP3-Player, den er immer um den Hals trägt. Dennis möchte ihm eine LP-Rarität überreichen und hofft im Gegenzug auf ein Geständnis, denn Walter tötet seine Opfer stets zu einem passenden Song.

Aus dem geplanten Zugriff wird nichts, denn es tritt Madeleine ins Bild. Die ist Anführerin eines Todeskults und als Sektenchefin gebietet sie über gehorsame Jünger sowie eine Gruppe grimmiger Bodyguards.

Madeleine entführt nun Dennis bzw. er begleitet sie freiwillig auf ihre „Sonnenblumenfarm“, der esoterischen Tarnorganisation, denn sonst tut Madeleine seiner Tochter Annie ein Leid an. Dennis verabschiedet sich von Walter, packt die Platte wieder ein und befiehlt Victoria, sich aus der Sache rauszuhalten.

Madeleine will sich an Dennis rächen, denn der hat ihren psychopathischen Sohn für einige Jahre hinter Gitter gebracht. Walter blickt sogleich, was da läuft und nimmt mit Victoria Kontakt auf.

Walter spürt, dass Madeleine ein böser Mensch ist und möchte Dennis helfen, der ja auch noch eine Schallplatte für ihn hat.
Er radelt zur Sonnenblumenfarm, dem Sitz der Sekte, und bittet Madeleine, Dennis freizulassen. Die lässt ihn abblitzen und Walter kundet bei der Gelegenheit schon das Anwesen aus.

Dennis erwartet ein grausames Ende, wahrscheinlich durch die Hand des mörderischen Sohnes oder seiner Zombie-Oma! Denn im Keller der Farm vegetiert Madeleines Mutter, die auch eine Serienmörderin ist. Allerdings eine untote, gesteuert durch Tochter Madeleine. „Todeskult“, Sie erinnern sich.

Das waren keine 20 Seiten von VINYL und wir ahnen, dass in diesem Comic eigentlich alle Figuren total bekloppt sind oder Killer oder beides.
Denn es kommt noch weitaus wilder.

Walter nämlich trommelt seine Serienmörder-Kollegen zusammen und überfällt mit ihnen die Farm. Wir begegnen den rothaarigen Killer-Zwillingen, dem riesenhaften Guy sowie der Schneiderin Rennie, die Outfits aus Menschenhaut kreiert und vor ihrer Arbeit gerne in einer Wanne voller Blut badet.

FBI-Frau Victoria wird Walter in die Keller der Farm begleiten, um Dennis zu befreien.  

Der Plot des Gemetzels

Der Rest von VINYL ist eine Schlachtplatte. Denn Madeleine ist weder schutzlos noch unvorbereitet. Ihr Security-Söldner-Team wird zwar schnell von unseren Mordspezialisten aufgerieben, aber da sind noch ihre gespenstisch maskierten Jünger sowie die Zombie-Oma und natürlich der kannibalistische Sohn, der schon wieder Hunger hat.

Das klingt vollkommen „over the top“ und ist es auch, aber der Stoff platziert seine Charaktere intelligent und weiß sie auch für eine spannende Dramaturgie in Szene zu setzen.

Hauptfigur Walter, der musiksüchtige Mörder, ist uns nicht unsympathisch. Er empfindet eine Freundschaft für seinen Gegenspieler, den FBI-Mann Dennis, und will ihn wirklich retten.

Clou an der Handlung ist, dass Walter, der planerische Kopf der Aktion, mittendrin zusammenbricht. Als sein MP3-Player im Kampf zu Bruch geht, stellt sich heraus, dass er Alzheimer hat und nur dank seiner Songs mit seinen Erinnerungen in Verbindung bleiben kann.

Sobald die Musik verstummt, ist Walter passiv und handlungsunfähig. Jetzt sind die Chancen unangenehm gleich verteilt und obwohl nichts Überraschendes passiert, führt uns YINYL in diverse Showdowns:

Können Guy und die Zwillinge die angriffslustigen Jünger ausschalten, ehe sie zum wehrlosen Walter vordringen?
Kann Rennie rechtzeitig ihr nötiges Blutbad nehmen, um Victoria vor den Klauen des sabbernden Sohns zu retten?
Kann Dennis sich selber und auch Walter vor dem Hackebeil der Zombie-Oma in Sicherheit bringen?

Mörder sind auch nur Menschen

Sie ahnen: Man darf VINYL nicht ernst nehmen.

Die Figur der Madeleine mit ihren Jüngern und ihrer seltsamen Familie ist dermaßen irreal (Zombie-Mutter, Kannibalen-Sohn), dass wir nicht das geringste Mitleid aufbringen. Die Gegner unserer Mördertruppe sind mehr Videospiel-Monster als Menschen.

Und auch wenn die Serienmörder die Guten sind, dann nur, weil sie professionelle Abhilfe vor größerem Übel schaffen können.

VINYL ist eine überdrehte, hochtourige Hommage an das Serienmörder-Genre. Die Potenzierung und der Schlusspunkt dieser Gattung. Nicht mehr steigerbarer Wahnsinn.

Das ist das „Dreckige Dutzend“ in der Psychopathen-Variante. Irre mit Sinn für Selbstverwirklichung im Kampf gegen Kultisten und Fundamentalisten, die Menschen instrumentalisieren möchten. Es lebe der amerikanische Traum!

Madeleine im Duell gegen Walter: Schluss ist erst, wenn die Musik verstummt.


Alles Unfug, natürlich, aber kompetent gemacht und mit blutigem Witz erzählt. Kann man abgeschmackt finden, kann man geil finden, kann man zumindest auf handwerklicher Ebene den Hut vor ziehen.

Nach ihrem Schwestercomic PLASTIK bin ich erneut beeindruckt von Autor Doug Wagner und Zeichner Daniel Hillyard.

Sich so etwas auszudenken, ist schon eine Leistung. Es grafisch schick umzusetzen, ist eine Freude für Genre-Fans. Und auf ca. 150 Seiten eine solche Komplexität auszubreiten und dann wieder rundgelutscht zu kriegen, ist ein Husarenstück der Popkultur.

Und ich lese bald nur noch pazifistische Comics ohne jede Gewalt, ehe ich wieder Prädikate wie „Husarenstück der Popkultur“ vergebe. Chrchhrr.

VINYL: Wer’s mag, der mag’s.

Im Anschluss noch der Link zur Verlagsseite bei CrossCult plus ein vorsichtiges Geblätter, obwohl es mir nicht gelingen wird, eine Passage ohne Blutspritzer zu finden, also Vorsicht: