Tillmann liest: PRETTY DEADLY

Ich mag Western. Ich mag Horror. Dieser Comic ist ein Crossover aus beidem. Da konnte ich nicht widerstehen, zumal das Artwork absolut wüst und chaotisch wirkt. Im guten Sinne. In dem Sinne, dass man sich pro Seite minutenlang hineinversenken sollte, um es goutieren zu können. Denn bei aller Wildheit an Farben, Perspektivensprüngen und Panelplatzierungen steckt hier immer ein visuelles Konzept dahinter, dass erschlossen werden will.

Also erster Warnhinweis: Wenn Ihnen das zu viel ist, lassen sie die Finger von diesem Werk. Ich finde es gewagt, aber es ist niemals willkürlich. Diese Kunst transportiert Inhalte, die neben dem Text eine zweite Leseebene aufschließen. PRETTY DEADLY lädt zum Entdecken ein, wenn man die Geduld aufbringt!

(Außerdem möchte ich dieses Artwork als „Graham Ingels trifft Guido Crepax“ charakterisieren, das an sich ist schon irre, wer immer mir da folgen kann …)

Worum geht es denn nun?
Der ausgehende Westen, irgendwas um 1900. Ein geblendeter Moritatensänger und ein wildes Mädchen tragen ihre metaphorische Ballade von „Death and the Maiden“ vor: Hier aber zeugt der Tod mit der Erdenfrau ein Kind, das als untoter Reaper (ein Rachegeist) über Land zieht. Nur eine Gruselgeschichte?

Der Moritat Moral: Wähle 6-6-6 auf dem Telefon, wähle 6-6-6 und dann kommt er schon. Der Tod, beritten.

 

Im Verlauf des ersten Heftes von PRETTY DEADLY wird deutlich, dass nichts davon Fiktion ist. Deathface Ginny hat sich materialisiert und mit ihr weitere Reaper, die auf der Jagd nach einem mythischen Kind sind. Dieses ist auserkoren, den Tod selbst in seinem Reich abzulösen und in einem Garten hinter der Welt die „Seele der Erde“ zu pflegen.

(Ich belasse es bei diesen Andeutungen, keine Namen!, um nichts zu spoilern, um Ihnen auch keine Arbeit abzunehmen, wenn Sie es denn lesen wollen, dieser Comic will persönlich erobert werden, jawohl!)

Zwei Reaper und ihr Rendezvous mit dem Tod, der wohnt übrigens in dem Häuschen am obersten Bildrand.

 

Eine derart lyrische Vorlage verlangt lyrisches Artwork. Das ist es, auch wenn gleichzeitig actionlastige Gewaltorgien über die Seiten laufen. Wer macht denn so was?! Frauen!
Auch PRETTY DEADLY ist ein aktueller „Frauencomic“. Getextet von der Amerikanerin Kelly Sue DeConnick (die bei Marvel durch ihre Miniserie CAPTAIN MARVEL auffiel und derzeit für Image BITCH PLANET schreibt) und gezeichnet von der Spanierin Emma Rios. Wie bei MONSTRESS (s. Besprechung HIER) finden sich zwei höchst eigenwillige Kreative zusammen, um wieder so’n Ding zu schaffen, das die Welt noch nicht gesehen hat.
(Rios übrigens ist stark vom Manga beeinflusst, aber ich finde es gar nicht so Manga, weit weniger als MONSTRESS, ich bleibe bei meinem kauzigen Crepax-meets-Ingels.)

Eingebettet ist PRETTY DEADLY zudem in eine Rahmenhandlung: Im Garten des Todes lauschen wir den Gesprächen zwischen einem Schmetterling und einem toten, skelettierten Kaninchen (dem „bone bunny“) – abgefahrener geht es kaum (hat aber tatsächlich eine dramaturgische Anbindung).

Der Auftakt von PRETTY DEADLY: Ein Kaninchen stirbt und kommt nicht in den Kaninchenhimmel, sondern bleibt dem Comic als Kommentator erhalten.

 

Okay, es ist abstrus. Aber schlüssig und durchdacht. Mind-blowingly fantasievoll.

Der erste Band ist in sich abgeschlossen. Ich saß stumm und beeindruckt. Der zweite Band ist ein waschechtes Sequel. Wir springen 15 Jahre in der Zeit nach vorn, verlassen den Westen und befinden uns in den Gräben des Ersten Weltkriegs, in Frankreich. Der Fokus verschiebt sich auf einen neuen, zentralen, jungen Charakter. Dabei von der Partie sind jedoch die bekannten Reaper sowie neue Reaper, die als Gegenspieler herhalten. Auch hier rede ich nicht von den Figuren, denn das wäre alles Spoilerei.

Doppelseite aus Band 2 – inmitten grüner Giftgasschwaden tritt Ginny dem Reaper des Krieges gegenüber.

 

Mir gefiel Band 1 besser, denn Band 2 ist ein großteils ein Reaper-gegen-Reaper-Schlachtengemälde. Auch hier vergessen DeConnick und Rios nicht die menschliche Note, keineswegs, PRETTY DEADLY bleibt wuchtig und originell. Wahrscheinlich fehlt mir der Western-Touch. Auch wenn ich den Ersten Weltkrieg fast genauso liebe (mein Lieblingskrieg!) – Entschuldigung, das klingt jetzt „awkward“.

Mein Urteil: Überraschend gut. Richtig gut. Rios‘ Artwork macht nicht müde, sondern verlangt konstante Aufmerksamkeit. DeConnicks Skript hat das Zeug zu „sandman-esker“ Tiefe, ihr Reaper-Kosmos kann Folie für jede Spielart von Human Drama sein.
Angeblich sind weitere Folgen in Vorbereitung, aber DeConnick kommt grad schon bei BITCH PLANET nicht hinterher … time will tell.

Im Garten hinter der Welt pflegt der Tod die Seele der Erde. Schauen Sie doch nach, wenn Sie’s nicht glauben.

 

PRETTY DEADLY ist in zwei englischsprachigen Tradepaperbacks erschienen (je fünf Hefte, 10 bzw. 15 Dollar) und ist erhältlich im Internet oder spezialisierten Comicläden.

Transparenz, Baby: Die Kolumne „Tillmann liest“ will keine Rezension sein, sondern Leseeindrücke und persönliche Urteile vermitteln. Wir Comicfreunde finden selten jemanden, mit dem man überhaupt über unser Hobby reden kann. Ich betreibe das hier als Privatspaß und freue mich, wenn ihr reagiert!
Angemerkt sei noch, dass ich mir sämtliche englischsprachigen Produkte immer auch auf Englisch besorge und lese. Kann also passieren, dass hier Comics zur Sprache kommen, die nicht oder noch nicht auf Deutsch vorliegen!

Unsere Galerie zeigt noch Auszüge aus dem Duell zweier Reaper.

 

Nachtrag August 2021:

Mittlerweile auf Englisch erschienen ist bei Image Comics das dritte Tradepaperback von PRETTY DEADLY – „The Rat“. Anlässlich dessen habe ich bei Instagram ein Video zur Serie hochgeladen: