BETTY BOOB

Die Handlung, Schritt für Schritt:

Junge Frau bekommt ihre linke Brust amputiert und muss sich an ihr neues Körperbild gewöhnen.
Junge Frau verliert ihren Job in einer Parfümerie, weil sie sich weigert, ihr Dekolleté mit einer künstlichen Brustprothese aufzufüllen.
Junge Frau setzt ihren Freund vor die Türe, weil der jedes Mal, wenn ihr ihre OP-Narbe sieht, ohnmächtig wird.
Junge Frau wird die Perücke, die sie aufgrund ihrer ausgefallenen Haare vorübergehend trägt, vom Kopf geweht; sie jagt der Perücke durch die halbe Stadt hinterher.
Junge Frau landet beim Vergnügungsdampfer einer burlesken Showtruppe und wird von diesen Menschen herzlich aufgenommen.
Junge Frau macht mit bei der Burlesk-Show und erfindet sich neu als „Betty Boop“.
Junge Frau feiert Erfolge in der Presse, im Internet und im TV als Comedy-Amazone mit halber Büste.
Junge Frau entwirft eigene Modekollektion für Tops und Kleider, die eine Brust entblößen.
Junge Frau ist im Showgeschäft tätig.

So. Jetzt mal ehrlich:
An welchem Punkt der Handlung sind SIE ausgestiegen?

 

Ich geriet schon sehr früh ins Stolpern, aber man schleppt sich ja durch. Zudem BETTY BOOB ein pantomimischer Comic ohne Worte ist. Man kommt flott durch diese 180 Seiten.

Vielleicht holen Sie sich zunächst mal einen Eindruck auf der Verlagsseite von Splitter, die hier auch einen schönen COMICtalk-Vorstellclip präsentiert (hier auch separat anwählbar).

 

Dieses Buch handelt von traumatischen Erlebnissen und wie man damit umgehen kann. Mir ist das zu leger, zu salopp, zu überdreht.

In gewisser Weise desavouiert dieser Comic sein Anliegen. Denn für alle traumatisierten und erkrankten Menschen geht es eben darum, in den Alltag zurückzufinden – doch genau das verweigert BETTY BOOB und beschreibt stattdessen eine eskapistische Flucht in eine wenig glaubhafte Theaterwelt.

Ich fürchte, dieser Comic dient hauptsächlich dazu, die kitschigen Bildschwelgereien der Zeichnerin Julie Rocheleau in Szene zu setzen. Das sind tolle Schwelgereien, keine Frage!
Gerade die Bilder, die sie für den Krebs und den Verlust der Brust findet, sind nicht nur eindringlich und sinnig, sondern auf verstörende Weise auch schön.

Und da stoßen wir vielleicht auf mein Grundproblem mit BETTY BOOB: Es ist alles glamourös und … extrovertiert, möchte ich sagen.
Rocheleau überwältigt mich mit ihrem luftigen und freundlichen und irgendwie hyperaktivem Artwork. Nirgendwo hält dieser Comic mal inne, er treibt und rast und rauscht auf sein Showfinale hin.

(Sie dürfen sich das ein wenig so vorstellen wie Baz Luhrmanns bombastisches Entrée ins MOULIN ROUGE. Gott, das zeige ich jetzt, ist für mich die energiegeladenste Szene der Filmgeschichte!)

 

Gut, ich bin ein Mann und kann mir eventuell den weiblichen Humor, der hier drinstecken mag, nicht erklären.
Ich erkenne ein Element des fortlaufenden Slapsticks, was mich angesichts des Themas mehr die Stirn runzeln lässt als dass es mich amüsierte.

Da ist zum einen die amputierte, in einem Glas konservierte Brust, die die junge Frau oft mit sich führt und am Schluss rituell beerdigt. Na gut, finde ich schräg, aber meinetwegen.

Da ist zum anderen der eigentlich nette Freund, der mehrfach ohnmächtig wird, wenn er keinen normalen Busen sieht (ernstlich, das war zu Beginn kein Scherz!).
Der Mann geht im Lauf dieser Graphic Novel fünfmal zu Boden (einmal davon allerdings nur im Traum). Was sind diese Franzosen zart besaitet!
(Bei der nächsten Fußball-WM schicken wir bitte brustamputierte Flitzerinnen aufs Feld. (Entschuldigung.)

Mann reagiert schwindelsüchtig, wenn das Dekolleté nicht richtig gefüllt ist.

 

Des Weiteren ist da dieser Überfall im Brustfachgeschäft (weiß keinen anderen Begriff, aber hier soll sich die junge Frau auf Geheiß ihrer Chefin eine künstliche Brust kaufen). Eine grotesk kostümierte Bande überfällt den Laden, es entspinnt sich eine Art erotischer Kampf zwischen der jungen Frau und einer Diebin. Ich hab das nicht verstanden.

Ich erwähnte bereits, dass BETTY BOOB ein pantomimischer Comic ohne Worte ist. Ich finde es nicht immer eindeutig lesbar. Und diese Szene bleibt für mich im Dunkeln.

Weiter geht das Slapstickhafte mit der Jagd nach der Perücke: Auf 15 Seiten geschehen unmögliche Dinge. Die junge Frau springt über Dächer, ringt mit einem Hund um ihre Kunsthaare, jagt durch die Attraktionen eines Rummelplatzes (die Perücke hat inzwischen eigene Beine bekommen), klammert sich außen an ein Fahrgeschäft, stürzt, sieht die Perücke davonfliegen und findet sie wieder am Flussufer, wo sie sich im Bühnenaufbau der Burlesktruppe verfangen hat.

Die Perückenhatz beginnt mit einem Sprung über Dächer.

 

Ich finde das nicht lustig, sondern bemüht. Sie sagen vielleicht: „Hm, pantomimischer Comic, Stummfilm, Slapstick, passt doch!“ – Ich sag: „Hilft uns das bei unserem Thema weiter?“

Sie sagen vielleicht: „Wieso nicht? BETTY BOOB beruft sich eben auch auf die Zeichentrickfigur Betty Boop – die hatte mit Logik auch nichts am Hut!“

 

Mir kommt BETTY BOOB wie eine Blendgranate vor. Während im Vordergrund maximaler Budenzauber abgefackelt wird, stiehlt sich im Hintergrund die Handlung in eine Zigarettenpause.

Für einen Moment beschlich mich die Ahnung, das Ganze könnte auch die Fantasie der sterbenden jungen Frau sein! So bitter das wäre, hätte es für mich mehr Sinn ergeben.

Es endet auch in einer Art Apotheose, aber keiner Himmelfahrt, sondern dem Beginn einer nächsten Karrierestufe der „Betty Boob“: Die junge Frau reißt sich die Betty-Perücke vom Kopf und wir sehen, es sind ihr endlich Haare nachgewachsen.

Also bleibt es dabei: keine Todesfantasie, sondern fantastischer Alltag auf der Bühne.
Female Empowerment beim fahrenden Volk.

Betty bei der Truppe: Eine ist dick, eine ist dünn, einer fehlt ein Bein, Männer haben nix in der Hose – was ist neu?!

 

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Fußnote zum Schluss:
Es gibt einen akademischen Zweig der internationalen Comicforschung, der sich mit Krankheitsgeschichten in Comics beschäftigt: Graphic Medicine.
Vom amateurhaften Webcomic bis hin zur professionellen Graphic Novel untersucht man hier, in wie weit diese Erzählungen den Laien wie auch dem medizinischen Personal Einblicke und Sensibilisierung für Krankheitsverläufe und ihre psychischen Aspekte geben können.

Eine amerikanisch geführte Webseite dazu ist online einsehbar.
Und sie haben BETTY BOOB (die englische Ausgabe) sehr wohl wahrgenommen.
Die Kritik können sie HIER lesen.

Zusammengefasst: „Betty will not be defined by absence. Just the opposite, she seizes upon the opportunity that surviving breast cancer has given her, a joie de vivre that many of the ‘healthy’ people in her life cannot access.“

Korrekt. Aber ich denke, BETTY BOOB schießt übers Ziel hinaus.

Clip zum Schluss: Go to hell, Betty Boop!