Schon frech, einen farbenfrohen Maler wie Vincent van Gogh in krassem Schwarzweiß zu interpretieren.
Genau das jedoch tut der kroatische Allroundkünstler Danijel Žeželj auf 150 überformatigen Seiten in seiner biografischen Hommage auf den tragischen Liebling der Kunstwelt: Vincent van Gogh.
Neben seinem Stil, einem expressiven Chiaroscuro, ist die nächste Überraschung, dass Žeželj nicht ein einziges Gemälde van Goghs zitiert oder präsentiert. Es geht ihm um die Getriebenheit des Malers, der vom Start weg als verwirrter Geist gelten darf.
Das kantige, tuschesatte, wortlose Artwork evoziert dabei automatisch eine melodramatische Spannung.
Ich hatte wenig Ahnung von der Biografie van Goghs, doch Žeželj springt in 15 Szenen durch dessen Leben vom 20-jährigen Internatslehrer bis zum Freitod als 37-jähriger Kunstmaler.
Wussten Sie, dass van Gogh sich früh in religiöse Fantasien hineinsteigerte, Theologie studieren und Pfarrer werden wollte? Das erklärt so einiges in puncto mentale Stabilität!
Schlimmer noch, man lässt ihn als christlichen Missionar ins bitterarme belgische Kohlenrevier los. Eine Elendsumgebung, in der sich der labile van Gogh prompt absonderlich verhält und Zeuge eines verheerenden Grubenunglücks wird.
Komm, großer schwarzer Vogel
Chronologisch laufen wir Stationen aus van Goghs Leben ab. Die stumm inszenierten Episoden lassen Raum für Interpretation und entfalten ihre Wirkung im Zusammenspiel aus expressiver Illustration und dadurch ausgelöster Bedeutung.
Žeželj legt hinter jedes Kapitel ein briefliches Zeugnis des Porträtierten, das als Inspiration der vorhergehenden Zeichnungen gilt. Zudem finden sich im Anhang dieses prächtigen Kunstbuchs schnelle Daten zu jedem Kapitel – genug, um van Goghs Leben nachvollziehen zu können, ohne ihn auf Wikipedia recherchieren zu müssen.
Was Sie vielleicht dennoch können und sollten, um zu begreifen, wie clever Žeželj seine Auswahl trifft. Seine stroboskopartigen Visionen flackern zwar rasant vorüber, verschaffen uns jedoch punktgenauen Einblick in die neuralgischen Momente seines Daseins.
So die Szene mit den Schülern am Strand von Ramsgate (wo van Gogh ein kurzes Gastspiel als Lehrer gab): Während die Jungs ein an den Strand gespültes Fischskelett begutachten, erscheint van Gogh ein riesenhafter Kadaver am Himmel. Vision einer malerischen Idee oder einer qualvollen Glaubens-Obsession? (Der Fisch ist schließlich Symbol für Jesus Christus und sein Wirken.) Womöglich beides?
Die erwähnte Sequenz zeige ich unten im Blättervideo, für diesen Beitrag wähle ich seinen Abschied vom Kollegen Gauguin, mit dem er einige Zeit zusammenwohnte. Dessen Fortgang und Verschwinden aus seinem Leben hat van Gogh persönlich getroffen und ihm ein weiteres Trauma beschert.
VAN GOGH – FRAGMENTE EINES LEBENS IN BILDERN zeichnet keineswegs ein vollständiges Bild seines Subjekts, erhebt aber auch nirgends Anspruch darauf. Žeželj pickt Ereignisse heraus, die in seiner künstlerischen Praxis eine Resonanz hervorrufen – und stellt diese mutig aus.
Wir haben es hier mit weißgott keiner biografischen Graphic Novel zu tun, sondern mit einem psychogrammatischen Bilderbogen. Ich find’s bombastisch.
Mir hat dieses Werk nicht den Maler, aber den Menschen van Gogh nahegebracht. Eine feinfühlige, geplagte Seele. Ein Poet im Herzen, dessen Briefe (aus denen Žeželj zitiert) davon beredtes Zeugnis ablegen.
Überfliegen Sie die nicht zu schnell! Sie sind ein Schlüssel zum Verständnis des Malers:
„So, wie wir mit dem Zug nach Tarascon oder Rouen fahren, nehmen wir den Tod, um zu einem Stern zu gelangen. Wir können nicht zu einem Stern gelangen, während wir leben. Genauso wenig können wir den Zug nehmen, wenn wir tot sind.
Es scheint mir also nicht ausgeschlossen, dass Cholera, Schwindsucht und Krebs himmlische Fortbewegungsmittel sind, ebenso wie Dampfschiffe, Omnibusse und Eisenbahnen irdische sind.“
(Brief an Theo van Gogh vom 9. Juli 1888)
Verlagsangaben und kleine Leseprobe zu VAN GOGH – FRAGMENTE EINES LEBENS IN BILDERN unter diesem Link zu finden (etwas runterscrollen zum richtigen Produkt).
Infos zum Künstler auf dessen Homepage (die Sie mit ihrer Schaffensfülle erschlagen wird!).
Wie immer gewähre ich einen Blick ins Buch – und präsentiere darunter noch ein anderes Werk von Danijel Žeželj, das ich nur Wochen zuvor gelesen und ebenfalls im Video besprochen hatte: STARVE.
Und hier das Video zu STARVE: