Es ist mir wurscht, was mit Asterix und Obelix und dem gallischen Dorf passiert. Ich habe die klassischen Werke von Goscinny und Uderzo in meiner Jugend gelesen und mit der Lektüre aufgehört, als Uderzo solo ging. Warum soll ich schlechte Comics lesen?
Es ist mir auch rätselhaft, weshalb Produkte der Popkultur bis in alle Ewigkeit fortgeführt und mehr oder weniger künstlich am Leben erhalten werden. James Bond, Harry Potter, die Beatles, Star Wars oder eben Asterix.
Mir fehlt das Fanboy-Gen, das viele Menschen offenbar am Loslassen hindert.
Ich bin ein Stichprobenleser, der vom neuen ASTERIX-Run des Autoren Jean-Yves Ferri und des Zeichners Didier Conrad lediglich den zweiten (PAPYRUS DES CÄSAR) sowie den vierten (TOCHTER DES VERGINCETORIX) Band gelesen hatte. Ersterer übertrieb seine anachronistischen Scherze, war aber passabel; Letzterer wirkte wie zwanghaft auf ein jugendliches Publikum gestrickt und damit fehlkonzipiert.
ASTERIX UND DER GREIF, die fünfte Kooperation also, wollte ich deshalb mal wieder auslassen, aber dann hatte ich spontan Bock auf das Artwork von Didier Conrad. Hier und da sah man in der Berichterstattung Panels und Auszüge – und die fand ich atmosphärisch ganz bezaubernd.
Nicht nur bedient Conrad den Stil und die Manierismen von Uderzo (Physiognomien, Hintergründe, stumme Nebenhandlung Idefix), er gibt der Seite einen stimmungsvollen Schwerpunkt mit dem großen Übersichtspanel und arbeitet höchst subtil mit der Kamera, um seine Bilder lebendig zu gestalten.
Überhaupt habe ich den Eindruck, Conrad schwimmt sich endgültig frei von Uderzo. Hatte er bislang eine fantastische Kopie des Meisters abgegeben, finde ich seinen Strich hier lockerer, seine Charaktere individualistischer, seine Layout-Kompositionen erfreulich eigenständig. Und das alles immer noch im Geiste Uderzos!
Schauen wir auf eine brillante Sequenz, die ängstliche Römer in der Nacht präsentiert. Obelix knurrt der Magen so schlimm, dass eine Patrouille ausrückt, um nach dem „Monster“ zu fahnden. Die Römer werden natürlich außer Gefecht gesetzt und gefangengenommen:
Das ist klassischer ASTERIX, obwohl Uderzo es nie so angelegt hätte. Die Römer sehen zu angsterfüllt aus, der Einschlag von Obelix ist zu gewaltig, das Auftauchen der Frauen zu sehr ins Bild integriert. Ich weiß nicht, ob Sie es nachvollziehen können, aber das meine ich mit „Conrad hat sich freigeschwommen“.
Es funktioniert alles, ohne eine Kopie zu sein.
Auf dem Weg nach Osten
Auch die Handlung von ASTERIX UND DER GREIF ist tauglich, denn sie lässt sich in zwei Sätzen formulieren: Der Geograf Globulus verspricht Cäsar für seinen Circus Maximus eine neue Attraktion – einen mythischen Greif, der in den barbarischen Gebieten Osteuropas, bei den Sarmaten, zu finden sei. Der Schamane Terrine ruft Asterix, Obelix und Miraculix zu Hilfe, um das Vorhaben der Römer zu vereiteln.
In diesem Abenteuer bewegen wir uns in der Kaukasus-Region; ein reizvolles, noch unerforschtes Reiseziel für ASTERIX.
Auf ihrer Mission erleben Asterix und Obelix (und auch wir) einige Überraschungen: einen ausgewilderten Idefix, der mit den Wölfen heult; ein Matriarchat, in dem die Frauen die Kriegerinnen sind und die Männer am Herd bleiben (und überhaupt weibliche Namen tragen); atemberaubende Action-Sequenzen in der eisigen Steppe und einen „Greifen“, der sich sehen lassen kann!
Ferri und Conrad gestalten memorable Figuren wie das zerstrittene römische Führungstrio um Expeditionsleiter Globulus, Zenturio Brudercus und Gladiator Ausdimaus; den Schamanen Terrine als Miraculix-Pendant sowie die sarmatischen Kriegerinnen Kalaschnikowa, Casanowa und Matrjoschkowa.
Generell großen Schauwert bieten diese wilden Amazonen (die mir eher wie die Walküren aus dem Asgard des Marvel Cinematic Universe aussehen, vielleicht kein Zufall).
Winter is coming
Autor Jean-Yves Ferri scheint mir auch sonst Anleihen bei anderen Serien zu machen. Salopp formuliert, ist ihm die Idee zu diesem Album im Traum erschienen – nachdem er einige Staffeln von „Game of Thrones“ weggeschaut hat!
Im ersten Panel schon hatte ich eine Ahnung:
Der Verdacht erhärtet sich eindeutig zum Finale:
Hinter dem Eiswall lauern jedoch keine Zombies, aber genug andere Referenzpunkte: Wölfe, Wilde, Ungeheuer. Fast liest sich ASTERIX UND DER GREIF wie die Comedy-Version von Staffel zwei.
Nein, ich übertreibe, aber ich wette um mein Exemplar von DER GROSSE GRABEN, dass Ferri vom HBO-Serienhit inspiriert war!
Hat er aber clever eingefädelt. Neben allem Winterzauber vergisst er nicht den Humor, der ASTERIX zu Eigen ist. Die Römer sind verlässlich debil und machen sich gegenseitig am meisten fertig (nette Nebenfigur ist der Verschwörungstheoretiker Fakenius, übrigens von grüner Gesichtsfarbe, ein Verweis auf das giftige Grün des Zwietracht sähenden Tullius Destructivus aus STREIT UM ASTERIX).
Die Walküren-Amazonen sind erfrischend temperamentvoll und eine von ihnen möchte ihr Herz an unsere Gallier verschenken. Mal hat Asterix die Nase in ihrer Gunst vorn, mal Obelix.
Parallel geführt zum gallischen Dorf wird die sarmatische Siedlung, deren männliche Bewohner uns äußerst vertraut vorkommen.
Hier wird auch der Subplot mit Idefix und den Wölfen etabliert, der zum Schluss noch Bedeutung erlangt.
Es wimmelt von charmanten Details, die man zum Teil erst entdecken muss: das Pferd, das unter dem Gewicht von Obelix leidet; das Gegockel der Legionäre gegenüber einer hübschen Amazone; Klimawandel-Anspielungen am Gletscherse; eine stumme Abschiedssalve aus Pfeilen sowie Sprechblasen, die Corona-Maßnahmen thematisieren („Abstand! Abstand halten!“).
Und irgendwo versteckt im Bildhintergrund hält ein Kind die Luft an und erinnert uns Leseveteranen an den frechen iberischen Knaben Pepe aus ASTERIX IN SPANIEN.
Und dann sind da noch zwei skythische Späher, die den Römern ihre Erkundungen in Reiseführer-Phrasen rückmelden. Hübsche Idee. All das inszenieren Ferri und Conrad am Rande, ohne es zu strapazieren.
Was dem Comic dagegen fehlt, ist ein wenig Kontext zum neu eingeführten Volk der Sarmaten, das holen Sie bitte auf Wikipedia nach.
Insgesamt aber gilt:
ASTERIX UND DER GREIF ist das Album, das man sich seit dem Tode von René Goscinny gewünscht hat. Es ist nicht perfekt, ich vermisse die humanistische Seele Goscinnys, in seinen Werken schwingt ein unnachahmlicher Grundton, aber besser geht’s wahrscheinlich nicht.
Ich greife mir das Album und sage noch was beim Durchblättern: