Diesen Beitrag möchte ich nutzen, um die frankokanadische Künstlerin Julie Rocheleau vorzustellen. Sie macht seit über 20 Jahren Storyboards für Anime- und Kindertrickfilmserien sowie seit fast 15 Jahren Comics.
In Frankreich liegen fünf Werke vor, bei uns lizenzierte Splitter nur das 2017 im Original erschienene BETTY BOOB. Das habe ich hier vorgestellt und damals zwar geurteilt, Rocheleaus Artwork sei „kitschig“ und „hyperaktiv“, aber auch „eindringlich, sinnig“ und „schwelgerisch schön“.
Jedenfalls hat mich ihre Bildgewalt nie verlassen!
Und jetzt, da ich halbwegs französisch lesen kann, habe ich mich nach Rocheleau umgeschaut und mal ein weiteres ihrer Bücher bestellt: LA COLÈRE DE FANTOMAS ist ein Sammelband aus drei Einzelalben, veröffentlicht zwischen 2013 und 2015.
Als Autor fungiert diesmal Olivier Bocquet, bekannt durch seine Skripte für LADIES WITH GUNS und die aktuelle Fortführung der SODA-Serie.
In einem Vorwort erklärt Bocquet, er habe Fantomas als ersten Superhelden bzw. Superschurken der Popkultur wiederbeleben wollen.
Das Publikum kenne Fantomas meist nur noch als „den Hanswurst in der blauen Maske, verfolgt von einem Clown“. Damit spielt er auf die populären Filme der 1960er-Jahre an, mit Jean Marais in der Doppelrolle als Fantomas/ Fandor und natürlich Luis de Funès als Kommissar Juve.
Dem möchte Bocquet den originären Prinz des Verbrechens und ersten Terroristen der Moderne entgegensetzen – und zwar in Comicform, ausgerechnet illustriert durch die blumige Julie Rocheleau! (Für die Romane und Filme s. Link auf Wikipedia.)
Und wir beginnen damit, dass wir Fantomas auf der Guillotine einen Kopf kürzer machen:

Das war jedoch nur ein Doppelgänger, ein Schauspieler, der in die Rolle des Fantomas geschlüpft war. Inspektor Juve hat offensichtlich den falschen Mann verhaftet (oder den richtigen, der dann wiederum ausgetauscht und hingerichtet wurde?).
Ich begreife Fantomas als das personifizierte Böse, das nicht aus der Welt zu schaffen ist. Egal, wen man in seiner Gestalt verhaftet oder hinrichtet – Fantomas ersteht immer wieder auf.
So auch in LA COLÈRE DE FANTOMAS, wo er fortan den Plan verfolgt, die Goldreserven der Stadt Paris zu stehlen, um ganz Frankreich in ein finanzielles Chaos zu stürzen!
Hier sehen wir ihn seine Rede an die Unterwelt schwingen, in seinem neutralen Aufzug als schattenartiges Monster mit Kopfhaube und Frackschößen – ist das mal cool, oder was?

Inspektor Juve und der Journalist Fandor begeben sich erneut auf Spurensuche nach dem Gangster, befragen die üblichen Verdächtigen, wühlen in Akten, spähen Verstecke aus und halten ein Auge auf die geheimnisvolle Lady Belthan, die die Fantomas‘ Teilzeit-Geliebte zu sein scheint.
Die muss feststellen, dass Fantomas die Gestalt von Juves Vorgesetztem, Kommissar Havard angenommen hat. Doch sie steht in seinem Bann und ist dem Finsterling hörig.

Es kommt zu Verfolgungsjagden und gefährlichen Zusammenstößen. Fandor und Juve kommen nur knapp mit ihren Leben davon, hier werden sie von Jeannette verarztet.
Die tatkräftige Haushälterin ist Nummer drei im Team der Unbestechlichen gegen Fantomas, der alles unter Kontrolle zu haben scheint.

Wer ist Fantomas?
Weiß man nicht. Auch dieser Comic offenbart nicht das wahre Gesicht des Schurken, denn Fantomas kann sich jede Visage überstülpen und auch verschiedene Physiognomien annehmen.
Das ist wenig glaubhaft, aber Werke der Popkultur dürfen sich gewisse Ungereimtheiten erlauben – geht es doch um Unterhaltung.
In folgender Sequenz entdeckt Inspektor Juve den entführten Kommissar Havard im Verlies des Bösewichts und dessen Arsenal an Verkleidungen, von Rocheleau äußerst atmosphärisch und mit sprunghafter Kamera inszeniert:


Über 170 Seiten spannt sich eine straff getaktete Handlung, die zwar die Normen des Krimis nicht sprengt oder erweitert, jedoch beste Schauwerte liefert.
Julie Rocheleau findet auf jeder Seite neue Kompositionen und dazu eine organische Farbgebung, die sie immer fein auf Umgebung, Tageszeit und Ambiente abzustimmen weiß.
Hier etwa sehen wir in der oberen Bildreihe einen Unterwasserkampf am schlammigen Grund der Seine zwischen einem Taucher und dem als Frau verkleideten Inspektor Juve.
Die mittlere Reihe präsentiert uns das Boot über den Kämpfern, wo Fandor von drei Schurken malträtiert wird.
In der letzten Bildreihe taucht Juve in gelbem Nebel auf und beweist sich als Herr der Lage – wenn auch die nasse Perücke eher Anlass zum Lachen gibt.

Ich finde, Rocheleau auf Fantomas anzusetzen, funktioniert wunderbar. Doch es lässt sich diskutieren, ob die gewünschte Grimmigkeit des Fantomas sich wirklich einstellt.
Für mich hat es viel Komisches, was den Stoff (und des Autoren erklärte Absicht) eigentlich sabotiert.
Auch gibt es wilde Action-Szenen, die im halbabstrakten Stil der Künstlerin mehr artifiziell als spannend wirken. Meint: Rocheleaus Illustrationen überschreiben die Handlung – ich als Betrachter achte genauso sehr auf die Ausführung des Artworks wie auf das inhaltliche Geschehen.
Solcherart verfremdet Rocheleau das Krimi-Genre und überhöht diesen Comic. LA COLÈRE DE FANTOMAS ist kein gewöhnlicher Gangsterplot mehr, sondern die grafische Interpretation des allgemeinen Konzepts von Spannungsliteratur. Letzteres klingt kompliziert, ist aber eine Banalität.
Eine wundervolle Szene zeige ich noch: Juve hat Fantomas in ein Spiegellabyrinth mit angeschlossenem Wachsfigurenkabinett verfolgt.
Erst schießt er (in klassischer Ikonografie) einige Spiegel zu Bruch, dann streckt er den Dunkelmann nieder, um im nächsten Moment zu realisieren, dass dies nur die ausgestellte Wachsfigur von Fantomas war.

Dann dreht er sich um – und bemerkt seine eigene Wachsfigur, die nun auf ihn anlegt. Beziehungsweise auf den soeben zerschossenen Fantomas aus Wachs, der in Stücken hinter ihn am Boden liegt.
Rocheleau schwenkt die Kamera erneut und zeigt uns Juve, wie er zur Türe hinausgeht. Dabei stiehlt er seinem Wachsdouble im Vordergrund noch den Zylinder. Sein Kommentar gilt der eigenen Heldenverehrung: „Grotesk“.
(In meinen Kopf gilt er auf einer Meta-Ebene auch dem Werk sowie den Krimikonventionen an sich.)

Also: Ich bin der Meinung, Fantomas als Graphic Novel (und eben nicht als realistisch gezeichneten Spannungscomic) ist ein toller Ansatz, wie er vielleicht nur Franzosen einfällt. So bewahrt sich der Stoff eine coole Balance aus erstgemeinter Wiederbelebung und dennoch augenzwinkernder Hommage.
Somit ist Fantomas als Comic-Superschurke für ein Publikum des 21. Jahrhunderts etabliert. Da könnte man jetzt munter weitermachen, was jedoch nicht geschehen ist …
Ich finde Rocheleau sensationell und werde versuchen, an weitere Werke ranzukommen. Bis dahin wäre LA COLÈRE DE FANTOMAS auch vorstellbar in einer deutschen Lizenz: Krimi, Fantomas, schickes Belle-Époque-Flair, ein Hauch von Steampunk?
Da kämen aber einige Verlage in Frage. Um Sie alle auf den Geschmack zu bringen, biete ich noch etwas Geblätter durch den Band an: