Im Grunde haben wir es hier nicht mit einer Graphic Novel zu tun, nicht mal mit einer Erzählung im dramatischen Sinne. Birgit Weyhe reflektiert mit RUDE GIRL ihr eigenes Kunstschaffen und ihr Mindset als deutsche Comickünstlerin – verpackt in eine Comicbiografie über die US-amerikanische Literaturprofessorin Priscilla („Crystal“) Layne.
Das gestaltet Weyhe wieder einmal so clever, griffig, flüssig und unterhaltsam, dass Ihnen kaum auffallen wird, dass Sie eigentlich eine illustrierte Genderdebatte in Händen halten. Die Themen von RUDE GIRL lauten struktureller Rassismus, Klassenschranken, Kapitalismus sowie weiße Privilegien, gerne auch in komplizierter Verschränkung.
Ich bin erklärter Fan von Birgit Weyhe und war nach der Lektüre wieder einmal beseelt von ihrem Zugriff auf die Materie. Diese Frau legt eine 310 Seiten starke Diskussion hin, in der sie sich selber nicht schont. Dramaturgischer Clou an der Sache: Weyhe verhandelt aktuelle Sachverhalte an der eigenen Person. In einem Werkstattprozess präsentiert RUDE GIRL ihre Beschäftigung mit sich und ihre Darstellung und Vorstellung von People of Color.
Ich muss Sie jetzt vier Seiten lesen lassen, denn die zeigen Prämisse und Konzept des Projekts RUDE GIRL. Sie verstehen Weyhes Ansatz sofort.
Kurze Einstiegsbemerkung: Weyhe war für zwei Monate auf USA-Besuch und dort auch in Diskussionen um ihr Comicwerk verstrickt:
Wir erleben, dass Weyhe sich erst vor den Kopf gestoßen fühlt, dann aber das Gespräch sucht – noch nicht ahnend, was das alles in ihr auslösen wird. Priscilla Layne weckt ihr professionelles Interesse, denn Weyhe wittert einen weiteren biografischen Comicstoff.
Denn solche sind der Künstlerin bevorzugte Themen (und auch ihre Fortune, möchte ich ergänzen).
In bislang allen ihren Comics (von ICH WEISS über REIGEN bis zu GERMAN CALENDAR NO DECEMBER) brilliert die Hamburger Zeichnerin mit packend und punktgenau eingefangenen Lebensläufen. Dazu tragen ihr prägnanter Stil, ihre organische Bebilderung und auch ihr narrativer Rhythmus bei.
Birgit Weyhe beherrscht ein Tempo und einen Lesefluss, der auf keiner Seite Langeweile aufkommen lässt. Übrigens auch dank einer tüchtigen Prise Humors, den man leicht zu übersehen droht.
Beispiel von vorhin: Ist Ihnen die putzige parallele Bildgestaltung von Frau Weyhe und Mrs. Layne aufgefallen? Erst steht oben fünfmal Birgit nebeneinander, dann fünfmal Priscilla – in exakt denselben Körperhaltungen, als seien es zwei Gliederpuppen (doch durch gemeinsame Interessen und dialogischen Austausch verschwestert).
Weyhe taucht tief ein in Laynes Lebensgeschichte: das schwierige Verhältnis zu Mutter und Großmutter, den Missbrauch durch einen Cousin, das wiederholte Mobbing in der Schule – dieses nicht nur aus rassistischen Motiven, sondern auch aus klassenspezifischen.
Als Mädchen mit karibischen Wurzeln ist sie sowohl den Weißen wie auch den Afroamerikanern suspekt, noch dazu ist sie arm.
Layne und Weyhe betonen immer wieder die differenziert zu betrachtende Vermischung aus kapitalistischer und rassistischer Unterdrückung. Als junge Frau entwickelt Layne große Affinität zu Musik (Reggae, Ska, Punk) und der britischen Arbeiterklasse samt ihrer Skinhead-Kultur.
Die Besonderheit von RUDE GIRL liegt darin, dass Weyhes Subjekt, die Professorin Layne, die einzelnen Kapitel/ Lebensabschnitte, die Weyhe illustriert hat, inhaltlich kommentiert. Das natürlich wiederum gezeichnet von Weyhe!
Gestalterisch abgesetzt in einer einfarbig roten Kolorierung. Was Weyhe präsentiert, ergänzt Layne um weitere Details und Hinweise.
So entsteht vor unseren Augen ein Doppelbericht, ein reizvoller Bonus. Eine zweite Stimme (oder besser: die Stimme aus erster Hand) darf mitarbeiten und behält die volle Redaktion.
Auf diese Art ist RUDE GIRL ein Prozess der Annäherung an Fakten, Sichtweisen, Entscheidungen. Hier wird nichts fertig auf den Tisch geknallt, hier wird wahrhaftig diskutiert.
Layne stilisiert sich als Skinhead und reist durch England und Deutschland, um diese Kulturen aus der Nähe zu studieren. Dieses Buch ist prallvoll mit Eindrücken und Begegnungen. Wunderbar festgehalten in klaren Bildern (mit dem zauberhaft sinnfälligen „Weyhe-Touch“).
Da ich ein Mann der Komik bin, möchte ich noch eine satirische Szene zur Lektüre stiften: Priscilla sitzt in Berlin am Frühstückstisch ihrer typisch deutschen, ökobewegten Mitbewohnerin.
Ist das nicht herrlich übergriffig? Sind wir Deutschen nicht exakt so? Zwinker.
Wenn Sie aber glauben, das würde in RUDE GIRL so stehen gelassen, haben Sie sich so geschnitten wie das Roggen-Vollkornschrot-Brot (für das Amerikaner wahrscheinlich eine Säge benutzen müssten, harhar).
Hier folgt nämlich Priscillas Kommentar zu Weyhes Interpretation:
Weiterführendes und Fazit
In meiner Besprechung zu Birgit Weyhes LEBENSLINIEN finden Sie übrigens die Kurzbiografie von Priscilla Layne (ganz nach unten scrollen), auf der Weyhe nun RUDE GIRL aufgebaut hat.
Wenn Sie „Priscilla Layne“ googeln, stoßen Sie übrigens auf einige Zeitungsartikel sowie einen Fernsehauftritt bei „Maischberger“, wo sich die Professorin über Unterrepräsentation beklagt hat.
Weitere Infos zur Person zum Beispiel HIER, bei der University of North Carolina.
Birgit Weyhe hat mir RUDE GIRL wieder einmal ein kluges Buch abgeliefert. Wenn wir nur eines daraus lernen, dann die Tatsache, dass vorgefertigte Meinungen verderblich sind. Die Unter- und Zwischentöne, die Nuancen in unseren Lebensentwürfen sind das, was uns ausmacht. Und natürlich die Fähigkeit, innezuhalten und entspannt Reflexionen zuzulassen:
Wer Spaß daran hat, von meiner ersten Begegnung mit Weyhe zu lesen, der klicke noch auf meinen fünf Jahre alten Artikel zu MADGERMANES.
Alle anderen klicken auf das Vorstellvideo!