Mit Verlaub, Herr Graf, Sie sind ein Arschloch!

Ich find es ja ein schwaches Bild, dass man einen Comic plastisch-drastisch DRACULA, MOTHERFUCKER! nennt, dann aber nicht die Eier hat, es wirklich auszuschreiben: DRACULA, MOTHERF**KER! steht auf dem Titel und auch im Impressum.

Die USA, das Land der unbegrenzten Bigotterie: Einen Präsidenten ins Weiße Haus wählen, der die Demokratie zersetzen darf – aber keine Kraftausdrücke, bitte!
(Aber wer bin ich, den Erfindern des schönen Wörtchens „Motherfucker“ vorzuschreiben, wie sie damit im Printbereich umzugehen haben?!)

Außerdem geht es gar nicht um Mr. Trump, sondern um eine andere toxische Persönlichkeit: Dracula, hier nicht in Grafengestalt, ganz bewusst nicht, sondern dargestellt als gesichtsloser Schrecken.

What the Motherfuck?

 

Übrigens ist es schleierhaft, weshalb Autorin Alex de Campi ihren Stoff DRACULA, MOTHERFUCKER! genannt hat. Ich vermute einen Mix aus reflexartiger Beschimpfung eines Frauenschänders sowie Hommage an den Sprachgebrauch der Mittsiebzigerjahre in Hollywood, Los Angeles.
(Nicht auf der Leinwand, natürlich, sondern auf der Straße.)

Wo auch weite Teile der Handlung stattfinden – auf den nächtlichen Straßen der Stadt. Quincy Harker ist der Paparazzo, der nachts mit seinem Fotoapparat auf die Jagd geht, nach Prominenten in verfänglichen Situationen sucht oder einfach nach Menschen, die frisch zu Tode gekommen sind.

(Im „Dracula“-Roman ist „Quincey Harker“ tatsächlich der Sohn von Jonathan Harker und Mina Murray!)

Dieser Fotojäger Harker kann sein Glück kaum fassen, als er in einer verwüsteten Villa die Schauspielerin Bebe Beauland leblos vorfindet. Was er zu dem Zeitpunkt nicht ahnt: Bebe steht wieder auf, denn sie hat (um ewig jung zu bleiben) Dracula wiedererweckt und sich von ihm zur Braut machen lassen.

Schwachstelle an DRACULA, MOTHERFUCKER ist, dass wir nie erfahren, wie Miss Beauland das bewerkstelligt hat. Wie hat sie den (von seinen früheren drei Bräuten) im Sarg eingesperrten Dracula gefunden? Auf welche Weise konnte sie ihn wieder ins Leben rufen? Woher weiß sie überhaupt von Dracula?!

Darüber geht diese Graphic Novel salopp hinweg. Ein popkulturelles Wissen um das Auffinden und Beschwören von Vampiren scheint hier mal vorausgesetzt zu werden. (Und das unter Umständen langwierige Procedere hält ja auch die Handlung auf.)

Wir wollen schließlich die knallige Action sehen: das entfesselte Böse, blutige Attacken, verzweifelte Menschen und dramatische Kämpfe.

Nun, all das verweigert DRACULA, MOTHERFUCKER!
Wir bekommen schon das entfesselte Böse, blutige Attacken, verzweifelte Menschen und dramatische Kämpfe präsentiert, so ist es nicht. Aber in einer Weise, die mit allen bisherigen Konventionen zum Vampirthema bricht.

Autorin Alex De Campi und Zeichnerin Erica Henderson bürsten den Dracula-Stoff tüchtig gegen den Strich, sowohl inhaltlich wie auch grafisch, und das tun sie mit Ansage und mit Anlauf. Mir gefällt’s.
(Die Comictrolle Amerikas werden es als unverständlich krude, unnütz divers aufpolierte und verkappte MeToo-Anklage bemeckern.)

Definitiv wollen die beiden Macherinnen ein Statement gegen „toxische Männlichkeit“ abliefern. Darum ist Dracula kein osteuropäischer Gigolo, sondern eine Chiffre des Bösen: ein blutroter Schwarm aus Reißzähnen und glühenden Augen, nicht physisch manifestiert und damit unfassbar. Dieser Motherfucker hat keinen Körper und herrscht mit psychischem Terror.

Doch seine drei Bräute aus Wiener Zeiten kennen ihren ehemaligen Meister in- und auswendig. Marishka, Ateera und Verona haben den Fürst der Finsternis um die Jahrhundertwende an den Boden seines Sargs genagelt, um endlich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Als sie wahrnehmen, dass Dracula seinen Terror im Hollywood des Jahres 1974 wieder beginnen möchte, schreiten sie ein und nehmen den Kampf erneut auf.

Ich f*cke deine Sehgewohn***ten

 

An diesem Comic ist alles schräg.
Klein und stabil, mit holzig-matten Seiten, kranke Farben, wirre Layouts, sprunghaft-rasante Handlung, fast nichts wird erklärt.

Es beginnt mit drei schnellen Seiten, angesiedelt in Wien vor 130 Jahren: Die drei Bräute entledigen sich Draculas. Dazu hat Henderson Motive von Gustav Klimt benutzt (steht im Nachwort und wenn man es weiß, sieht man es auch.)

Der Auftakt im K.u.K.-Schneegestöber: Dracula schleicht als Schatten durch die Straßen, ein ganzer Friedhof zieht mit ihm:

Dann springen wir auch schon auf eine Hollywoodparty in Los Angeles 1974, auf der Bebe Beauland (auf nur zwei Seiten) Dracula wiedererweckt. Die nächste Doppelseite präsentiert uns Quincy Harker im Dienst, der Fotos von den toten Partygästen schießt.
(Dass er auf der Beauland-Party eintrifft und dass alle dort ums Leben gekommen sind, müssen wir uns selber erschließen.)

Harker fertigt in der Dunkelkammer Abzüge an (auf den Bildern ist eine scheinbar Tote Miss Beauland zu sehen, ich dachte fast, die Bilder bleiben leer, weil sie eine Vampirin geworden ist). Sein Redakteur schimpft, Miss Beauland sei noch am Leben und gebe gerade eine Pressekonferenz.

Also startet der verblüffte Harker wieder in die Nacht und knipst noch ein Mordopfer am Flussufer, das Einstichmale am Hals aufweist (die aber nicht thematisiert werden). Noch ahnt ja niemand, dass Dracula wieder sein Unwesen treibt. Dieses (namenlose) Mordopfer wird nach Bebe Beauland die zweite „neue“ Braut von Dracula.

Bebe lauert hernach Harker auf, um ihm als lästigen Zeugen aus dem Weg zu schaffen und ihrem Gebieter zuzuführen. Das verhindern die drei „alten“ Bräute Draculas, die nun auf der Szene auftauchen, Harker retten und ihn aufklären, was Sache ist.

Nach diesem ersten missglückten Attentat auf Harker stellt ihm sein Redakteur auf Geheiß Draculas eine Falle: Harker soll Partyfotos in einer Villa in den Hügeln schießen, dort wartet allerdings nur die blutrünstige Bebe auf ihn. Ateera jedoch begleitet ihn und kann Bebe in Schach halten.

Dem Showdown mit Bebe folgt die Konfrontation mit Dracula.
Drei gegen Drei, Harker mittendrin, wie’s ausgeht, sei nicht verraten.

Fazit, Motherfucker!

 

Zur Publikation sei noch gesagt, dass DRACULA, MOTHERFUCKER! vom Verlag Image als „Graphic Novel“ vermarktet wird; wir Europäer würden es eine grafische Novelle nennen, denn es handelt sich um einen kleinformatiges Hardcoverbändchen mit ca. 60 Seiten Geschichte plus etwa zehn Seiten Zusatzmaterial.

Aus letzterem möchte ich Auszüge zeigen, denn sie sind erhellend. Zunächst Zeichnerin Erica Henderson:

Wir lernen, dass Henderson auf Taktung geachtet hat, gerne Doppelseiten komponiert (diese auch mit Umblätter-Cliffhanger-Effekt) – und, was ich interessant fand, eine spontane Kolorierung benutzt hat.
Also kein Farbkonzept für das komplette Album erstellt, sondern Szene für Szene nach Laune eingefärbt und dabei Augenmerk gelegt auf den rohen Punch auf unsere Retinas.
(Entschuldigung, mag es nicht anders ausdrücken.)

Dieses Vorgehen verleiht dem Werk zwar eine inkonsistente, teils sogar grenzwertige Farbwirkung, die aber ist faszinierend und macht DRACULA, MOTHERFUCKER! zu einem Ausnahmecomic.
Hendersons Farben sind nicht immer schön, manchmal passen sie mir auch nicht, aber sie kreieren einen großartigen Psychedelik-Vibe.

Das ist heftig und wird vielen Leser*innen aufstoßen; insgesamt ist dieses Album keine leichte Lektüre. Ich erwähnte schon De Campis verkürzte Plotstruktur, die das Geschehen ungewöhnlich (fast schon ungebührlich) komprimiert.
Ich musste öfters hin- und herblättern, um zu verstehen, wer jetzt gerade aktiv ist, wo wir uns befinden, was da nun passiert ist – und leider sind auch die Figuren nicht immer eindeutig zu identifizieren.

Weitere Schwachstellen dieses kraftmeierischen Comics, die ich jedoch verzeihen kann, weil mir der Ansatz gefällt. Damit komme ich zu einer Seite Anmerkungen der Autorin Alex de Campi:

In diesen Zeilen macht De Campi klar, was mit Frauen geschieht, die sich mächtigen Männern an den Hals werfen. Sie gehen einen Deal ein, natürlich, aber wann läuft dieser aus und in welcher Weise?

Alex de Campi ist eine reflektierte Schriftstellerin, die sich niemals mit der Norm abgibt. Sie führt ihre Thematik aus dem Bereich der Konvention hinaus und verwandelt sie in kreative Stoffe, die altbekannte Formeln in völlig neuem Licht erscheinen lassen.

(Ich werde demnächst ihr Thrillerdoppel SMOKE/ASHES von 2005 und 2012 analysieren, der im Bereich der Verschwörungsmythologien erfrischende Akzente setzt.)

Auf Deutsch wäre DRACULA, MOTHERFUCKER! vorstellbar in der Noir-Reihe bei schreiber&leser. Für den prallen Gesamteindruck blättern wir fluchend durch das Werk (Instagram, Motherfucker):