Sie sind unsterblich.
Und sie hassen es.
Vier Söldner metzeln sich durch die Jahrhunderte, denn nur im Töten sind sie gut. Noch dazu sind sie nicht umzubringen, selbst scheußlichste Wunden heilen in Minutenschnelle – was auf dem Schlachtfeld nicht zu verachten ist.
Dennoch hassen Andromache, Nicolo, Yusuf und Sébastien es, unsterblich zu sein. Ich verstehe sie bestens. Man altert nicht, sondern muss zusehen, wie alle Menschen um einen herum zugrunde gehen, immer und immer wieder.
Auch in meinen Augen ist Unsterblichkeit ein Fluch, doch es gibt Leute, die wünschen sich nichts sehnlicher. Solch ein Mensch ist der Bösewicht aus Band 1: Mister Merrick ist steinreich, lässt Nicolo und Yusuf entführen und will ihnen ihr Geheimnis entreißen (um es natürlich auf sich selbst anzuwenden).
Übrigens ist Nicolo ein genuesischer Adliger, der während der Kreuzzüge auf Yusuf traf – und zwar auf der Gegenseite. Nach diversen Versuchen, sich vergebens abzustechen, sind die beiden sexuell übereinander hergefallen und seitdem ein Liebespaar.
Sie benutzen in diesem Jahrhundert die Tarnnamen „Nicky“ und „Joe“, Andromache firmiert unter „Andy“. Andys Geschichte erfahren wir in Band 2 (und auch, dass sie eine unsterbliche Gefährtin hatte, Noriko).
Doch zunächst stößt eine junge Marine-Soldatin zu ihnen: Nile Freeman sorgt für „frisches Blut“ im Team, denn Anführerin Andromache hat schon 6.732 Jahre auf dem Buckel und das bislang jüngste Mitglied Sébastien Le Livre (genannt „Booker“) ist der einzige, der Computer noch ansatzweise versteht. Mit seinen 200 Lenzen ist er sozusagen der Webmaster der Gruppe!
Vorsicht, bitte, Warnhinweis:
Die Darstellungen in diesem Comic sind megabrutal, es werden Körper in Stücke geschossen. Stellen Sie die Lektüre ein, wenn Sie keine Gewalt im Comic sehen mögen. Die Gewalt in THE OLD GUARD dient auch dem Schaueffekt, ist jedoch kein Selbstzweck, denn dieser Comic thematisiert auch Funktion und Historie zwischenmenschlicher Gewalt.
Blutiges Märchen?
„Dies ist ein Märchen aus Blut und Kugeln“ lautet die Werbephrase für THE OLD GUARD. Ausnahmsweise ist das völlig korrekt! Es hagelt Kugeln und es spritzt das Blut. Wir sind gewarnt worden! Es ist ein Märchen aus Blut und Kugeln. Ich find’s fabelhaft.
Diese Doppelseite zeigt das Ableben von Nile Freeman: Oben links betritt sie die Behausung einer islamistischen Terrorzelle. Unten links will sie den angeschossenen Mann am Boden verarzten. Oben rechts zückt dieser ein Messer und schneidet Nile die Kehle durch. Unten rechts symbolisiert der grafische „Whiteout“ ihren Tod in den Armen des Kameraden.
Natürlich ist das ein Gewaltcomic, doch die Gewalt ist dem Thema Unsterblichkeit inhärent. Die Güte des Werks bemisst sich danach, wie es mit seinen Figuren umgeht. Und die werden durchaus liebevoll behandelt und geführt.
Dazu später mehr, doch zunächst fragen wir uns: Menschen, die nicht totgehen? Gab es das nicht schon mal? Ein Vergleich zur Filmserie „Highlander“ drängt sich auf.
Auch für THE OLD GUARD gilt ein Genremix aus Fantasy, Action und Historie. Der Comic legt aber insofern noch einen drauf, dass die Unsterblichen nicht durch Enthauptung getötet werden können!
(Allerdings können auch sie aus noch unbekannten Gründen ihr Leben aushauchen. Das ist noch ein Mysterium, das eventuell in Band 3 geklärt werden wird.)
Unser Quintett um Andy, Nicky, Joe, Booker und Nile muss sich in Band 1 mit dem skrupellosen Superreichen auseinandersetzen, in Band 2 mit einem Menschenhändlerring, dem eine alte Bekannte vorsteht. Beide Handlungsstränge überraschen nicht mit unvorhersehbaren Pointen, aber holen das Maximum aus ihren Formeln heraus.
Greg Ruckas Skript ist makellos, bleibt jedoch wie erwähnt den Konventionen verhaftet. Was diese Comicreihe zur Schau macht, ist das Artwork von Leandro Fernández, der oft in überwältigenden Tableaus illustriert (und mir hier besser gefällt als in THE DISCIPLINE), by the way.
Ich zeige im Folgenden noch weitere fotografierte Doppelseiten, um diesen Eindruck adäquat rüberzubringen.
Die überbordende Action mit ihren wilden Kampfszenen stellt der Argentinier lustvoll aus, auch wenn er dem leicht schablonenhaften modernen Zeichenstil des 21. Jahrhunderts treu bleibt.
(Diese – im Fußballsprech – „Argentinos“ sind verdammt gut, siehe die Traditionslinie von Alberto Breccia, Arturo del Castillo, José Antonio Muñoz und Juan Giménez über Oscar Zárate bis hin zu Domingo Mandrafina, Eduardo Risso und Youngstern wie Fernández; und fünf Euro in die Namedropping-Kasse, bitte.)
DC-Autor Greg Rucka hatte bei Image zuvor schon mit LAZARUS und BLACK MAGICK reüssiert (beide nicht gelesen) und schrieb auch das Drehbuch zur Realfilm-Adaption bei Netflix: „The Old Guard“ (2020).
Ich sach‘ mal: Den muss ich nicht sehen. Das wirkt, als habe man einen interessanten Comic zu einem generischen Haudrauf-Mysterythriller verwurstet. Finanziell schön für Autor Rucka, aber das gibt mir keinen Mehrwert.
Da ist mir Gewalt und Düsternis im Comic sehr viel lieber – und bunter ist sie auch!
: – )
Im Folgenden zwei Doppelseiten eines Gemetzels: Die Guardspeople (so nenne ich sie mal) im Shootout mit einer schwer bewaffneten Übermacht. Man beachte, wie Zeichner Fernández den Raum etabliert, dann mit wild geschnittenen Bildern und Soundwörtern füllt – und noch eine choreografierte Komposition hinbekommt! Tippitoppi!
Es gibt sie noch, die feinen Dinge
Kommen wir zu den Punkten, die THE OLD GUARD über den Actioncomic-Standard herausheben und mich für das Werk eingenommen haben:
Die Guardspeople finden zueinander, indem sie von den anderen träumen. Im Schlaf sehen sie ihre Verbündeten vor sich; erst wenn sie sich begegnen, verschwinden diese Visionen.
Andromache, die Älteste, hat 1.000 Jahre lang von Noriko geträumt, bis sie diese tatsächlich getroffen hat. Allein diese Vorstellung ist schon ziemlich irre, aber völlig logisch: Die Welt damals war groß, spärlich besiedelt und schwer zu bereisen.
Nile Freeman wird schon nach Tagen von der Gruppe der Unsterblichen gefunden. Datenbanken, das Internet, soziale Medien und Fernreisen an jeden Punkt der Erde erlauben ein schnelles Aufspüren. Nile übrigens stirbt bei einem Einsatz in Afghanistan, erwacht jedoch Stunden später kerngesund in einem Feldlazarett.
Andy, Nicky, Joe und Booker entführen sie schnellstmöglich aus dem US-Armeegewahrsam, ehe die Behörden den Vorfall untersuchen können und merken, dass ihre Marine-Soldatin kein normalsterblicher Mensch mehr ist. In der folgenden Sequenz demonstriert Andy der entführten Nile auf drastische, aber glaubhafte Weise, dass sie beide nicht mehr sterben können.
Obwohl das nur eine Dialogszene ist, gestaltet Férnandaz die beiden Seiten raffiniert mit viel nächtlichen Schatten und lebendigen Körperanschnitten und überhöht die Bilder zu einer Schlüsselszene.
(Wir lernen gemeinsam mit Nile, was es bedeutet, wie es sich anfühlt, was für ein Schock es ist, wenn die Erkenntnis der Unsterblichkeit ins Gehirn sickert.)
Zuerst ist die Unsterblichkeit ein Rausch, aber THE OLD GUARD beweist mehrfach, dass die Protagonisten mit dieser Gabe hadern – umso mehr, je älter sie werden. Im ersten Band ist Booker das ewige Leben leid, im zweiten Band ringt Andy mit den Dämonen der Vergangenheit.
Die Darstellungen in diesem Comic sind drastisch, aber vielleicht kann die Welt nur grausam erlebt werden, wenn man Jahrhunderte überdauert und den Tod in all seinen Facetten erlebt hat?!
Die Guardspeople sind desillusionierte, zerrissene Typen, die – wenn sie großes Glück haben – füreinander da sind. Wie das schwule Liebespaar Nicky und Joe, die ihre Erfahrungen teilen und sich aufeinander verlassen können.
Booker verliert den Boden unter den Füßen und Andys zügelloser Lebenswandel kann nicht mehr ihre innere Leere verdecken. Ihre Geliebte Noriko, die ihr 2.000 Jahre lang Halt gegeben hat, ist auf See in einem Unwetter über Bord gespült worden. Andy musste annehmen, dass sie unauffindbar bleibt und hat sie irgendwann vergessen.
Noriko jedoch ist nicht im Meer umgekommen, sondern „bloß“ tausende Male ertrunken, bis sie irgendwo an Land gespült wurde. Die Liebe ihres Lebens kehrt zurück zu Andromache, allerdings hat sie psychopathische Züge entwickelt und nimmt den Kampf mit der Gruppe auf.
Ich zeige noch drei fein gestaltete Seiten, auf denen Noriko im Dunkeln Booker auflauert. Die Szene explodiert in einem Tableau synchron dargestellter Action, durch Farbakzentuierungen verständlich aufbereitet.
Damit sind wir beim Paradox der OLD GUARD, was ebenfalls wunderbar aufgelöst wird, wie ich finde. Wie wollen sich Unsterbliche an den Kragen gehen?
Sie wissen, dass es sinnlos ist, also arbeiten sie mit psychologischen Methoden wie Gruppenausschluss und Verbannung. Denn der Einzelne ist nichts ohne die Gruppe, auf ihn wartet das einsame Elend der Ewigkeit.
Das Gespür für Zeit und ihr Vergehen wird deutlich thematisiert, was dieser Serie ein authentisch wirkendes Fundament verleiht.
Solche Kunstgriffe sind es, die die Figuren zum Leben erwecken. Womit wir beim nächsten Punkt sind: Die Charaktere sind plastisch und glaubhaft, ihre Motive und Motivationen nachvollziehbar – was die Glaubwürdigkeit dieses völlig fantastischen Stoffes weiter zementiert.
Autor Rucka bewältigt den Spagat, widernatürliche Absurditäten als denkbar und akzeptabel erscheinen zu lassen. Was Zeichner Fernández mit schicker (und geschickter) Abstraktion untermauert. Beispielsweise in dieser Sequenz, in der Andy und Nile ins Safehouse kommen und Booker vorfinden, dem man den Kopf weggeschossen hat!
Das Schlimme an THE OLD GUARD ist, dass wir wohl drei Jahre auf den Serienabschluss warten müssen. Der erste Handlungsbogen war von 2017, der zweite von 2020 – daher sollten wir uns in Geduld üben. Bei mir herrscht schon jetzt Vorfreude.
(Sowieso kann man die exzellenten ersten Bände nochmal studieren!)
THE OLD GUARD könnte ein Lieblingscomic werden. Schöner hat sich Mystery-Action selten präsentiert, wenn überhaupt. Verlagslink HIER.
Wir blättern durch beide Bände: