Da war ich skeptisch. Sean Murphy, dessen Artwork ich nicht widerstehen kann (Schraffuren-König!), wagt sich solo an eine abgedroschene Operettenfigur wie Zorro?!
Dass Murphy allein arbeiten kann, hat er mit seinem „Murphyverse“ und der WHITE KNIGHT-Trilogie bewiesen, aber nach Batman ausgerechnet Zorro, der bekanntermaßen ein Prototyp für den „Dunklen Ritter“ war?!
Mit einem furiosen Auftakt von fünf Seiten gelingt es Murphy jedoch, den Bogen vom musealen Zorro in die düstere Gegenwart Mexikos zu schlagen.
Dem Freudentaumel der Bevölkerung anlässlich dieses Schauspiels aus glücklichen Tagen zum „Dia de los Muertos“ folgt der konstrastierende Auftritt des lokalen Drogenbarons: El Rojo verbittet sich das subversive Gedenken an Zorro.
Das Dorf lebt schließlich vom Koka-Anbau und somit vom Drogengeld der Mafia. El Rojo unterstreicht seine Forderung nach Gehorsam, indem er den Zorro-Darsteller kurzerhand kaltmacht (übrigens mit einem Degen).
Er schlüpft damit in die Rolles des (in der Gegenwart) siegreichen Capitanos und festigt seine Herrschaft des Terrors.
Schauen Sie, wie clever Murphy die dramatische Szene inszeniert. Erst mit einer Großaufnahme der traumatisierten Kinder des Darstellers, dann mit Warnschüssen der Gangster, die die Dorfgemeinschaft auseinandertreiben.
Dann sehen wir drei Bilder, auf denen Sohn Diego vom Pfarrer in die Kirche in Sicherheit gezogen wird. Und ein weiteres Bild, auf dem Tochter Rosa mit der Menge flieht und das somit die räumliche Trennung der Kinder untermalt.
Mit der nächsten Seite springen wir nämlich 20 Jahre in die Zukunft und treffen Rosa als Frau wieder, die sich ihren Lebensunterhalt als Fahrerin für das Kartell und El Rojos rechte Hand Trejo verdingt.
Das nennt man Fallhöhe: Das fröhliche Dorffest endet in einer Gewaltorgie und zementiert die Hoffnungslosigkeit des mexikanischen Alltags von heute.
Ich war überrascht, dass Murphy diesen Schritt in die Gegenwart tut, denn jetzt kann es nur Ärger geben!
Den gibt es – und zwar tüchtig und schnell: Diego ist mittlerweile von Bürgermeister Alejandro zum neuen Zorro ausgebildet worden.
Nach dem blutigen Dorffest hatte der Pfarrer den Sohn des Schauspiel-Zorros auf Alejandros Kastell gebracht, wo ihm das Reiten, Fechten und Kämpfen beigebracht wurde.
Diego geht völlig in der Rolle auf und spricht sogar so gestelzt wie der Hollywood-Zorro der Filme, die er natürlich alle studiert hat.
Rosa ist entsetzt, ihren Bruder in diesem geistesverwirrten Zustand zu erleben. Nach einem ersten Scharmützel mit El Rojos Leuten, die Alejandro für einen Spion der Drogenbehörde DEA halten und umbringen, kann Diego sich tatsächlich als neuer Zorro behaupten.
Zorro, Rächer der Entrechteten!
Doch Rosa will nur eines: Den vermissten Bruder aus dem Land schaffen. Denn sie weiß, dass ein Zorro nichts ausrichten kann gegen ein bis an die Zähne bewaffnetes Kartell.
Diego scheint völlig verblendet und ist von seiner neuen Rachemission nicht abzubringen. Er legt sich Zorros Augenmaske um und einen Fuchs um die Schultern.
Der ist nicht so harmlos, wie er hier ausschaut. Denn Bandido, so heißt das Füchschen, ist Diegos tierischer Sidekick, der bösen Buben auch mal an die Kehlen gehen kann!
Tatsächlich eröffnen sich Handlungsspielräume für einen Aufstand gegen das Kartell.
Ein DEA-Agent sichert amerikanische Kooperation zu, falls Rosa und Diego Beweismittel gegen El Rojo liefern.
Tomàs, der Wirt des Örtchens, outet sich als ehemaliger Söldner, der die Dorfgemeinschaft zum Widerstand aufruft.
Die Datenbeschaffung in El Rojos Landsitz geht zwar in die Hose und Zorro und seine Reiter müssen fürs Erste der Gewalt durch Trejo und die Gorillas des Kartells weichen – doch die Dorfgemeinschaft schöpft Hoffnung, als sich alle in Zorros (wiederentdeckte) geheime Höhle flüchten können.
Das ist natürlich die „Bat Cave“, leider nicht so spektakulär, denn es stehen nur drei olle Fechtpuppen und ein Bücherschrank drin rum. Immerhin bleibt Murphy glaubwürdig mit dieser Darstellung:
Zorro, König der Schraffuren!
El Rojo greift die Kirche an und nimmt Rosas Lebensgefährtin Esperanza als Geisel. Damit läuft die Handlung auf das klassische Duell hinaus: Zorro gegen den bösen Capitano. Beziehungsweise Diego gegen den Mörder seines Vaters.
Es kommt zu einigen Konfrontationen zwischen den Figuren, die Murphy gut zu bedienen weiß. Diego muss sich seinem Zorro-Wahn stellen. Rosa muss sich vom Kartell lossagen. El Rojo muss erkennen, dass ihm nicht alle zu Willen sind. Trejo muss feststellen, dass seine Fahrerin Rosa eine Verräterin ist:
Ich werde jetzt nicht zum Verräter und erzähle nicht, was noch kommt.
Lieber möchte ich kurz von Murphys Schraffuren-Kunst schwärmen, Sie haben die Bildbeispiele gesehen. Filigran, dynamisch, ausdrucksstark.
Zorro, Bastelfuchs der Versatzstücke!
Man könnte Murphy vorwerfen, er stricke uns einen Plot nach Muster 13: Außenseiter glaubt an seine Mission und überwindet alle Widerstände, obwohl die Menschen um ihn herum zweifeln oder ihn daran hindern wollen.
Ein Held mit reinem Herzen, seine fehlbare Schwester, sein weiser Mentor, sein treues Ross, sein putziges Haustier (der Fuchs namens Bandido). Auf der Gegenseite ein unnachgiebiger Despot und sein loyaler Erfüllungsgehilfe. Dazwischen noch die Bevölkerung in Archetypen wie dem alten Schmuggler, dem patenten Pfarrer und dem kampferprobten Dorfwirt.
Da klingen auch Westernthemen an, obwohl ich ZORRO nicht als Western klassifizieren würde. Murphy liefert uns einen Vollblut-Abenteuercomic, der seine Handlung gnadenlos voranpeitscht (eine Peitsche hat Zorro übrigens auch).
Wer frühere Werke des Künstlers mochte, wird bestens bedient.
Ich halte sein Zorro-Revival für ein Märchen, denn so läuft es nicht im heutigen Mexiko. Da erhebt sich keine Dorfgemeinschaft gegen die schwerbewaffneten Killer der Kartelle. Da ist kein Platz für Helden. Auch wenn uns Murphys ZORRO mit einer lebenden Legende in eine hoffnungsfrohe Zukunft entlässt, ist das im Grunde Hollywood-Kitsch.
Womit ich auf den Plot zurückkomme: Die Geschichte erfreut und erwärmt uns, bleibt aber ein Popkultur-Produkt, das mexikanische Folklore ausbeutet.
Wobei ich mir gerade selber mit meinem Wortflorett in den Fuß steche. Zorro war nie etwas anderes als ein Popkultur-Produkt und hatte mit Mexiko nie etwas zu tun.
Es bleibt mir ein Nachgeschmack von Künstlichkeit, den ich Murphy kaum vorhalten kann. Bekommen SIE erst mal so etwas hin!
Wäre dieser Comic eine deutsche Produktion, wäre der Jubel groß und die Professionalität aller Beteiligten besiegelt.
Zum Schluss noch die Frage nach der deutschen Veröffentlichung.
Noch sehe ich keine.
Murphys Werk ist in Deutschland breit verlegt, meist bei Panini (THE WAKE, DER WEISSE RITTER, CHRONONAUTS, AMERICAN VAMPIRE) und Splitter (PLOT HOLES, TOKYO GHOST).
Ich habe mich auf diesen Seiten über zwei der Werke lobend geäußert, s. Linksetzungen.
Da sollte Luft für ZORRO – MAN OF THE DEAD sein, zumal es sich um ein schmales, in sich abgeschlossenes Bändchen handelt.
Und ehe Sie mir widersprechen wollen und Ihren Degen zücken, habe ich schon ein Reel gepostet, was einige Degenduelle beinhaltet: