Zeichners Traum: LETZTES WOCHENENDE IM JANUAR

Es gibt einige Selbstbespiegelungen der Comicbranche, die von den Schaffenskrisen der Künstler handeln (mir fallen da Pedrosa, Trondheim und Larcenet ein). Ein weiterer Gigant der frankophonen Szene jedoch zeigt uns einen Zeichner bei der Arbeit: Bastien Vivès schickt seine Figur Denis Choupain nach Angoulême. Auf dem dortigen Comicfestival (Europas populärstem und größtem) hält er Signierstunden ab.

Ganz unaufgeregt kommen wir mit ihm am Bahnhof an, wir checken im Hotel ein, sortieren unseren Kram, schultern eine Mappe mit Originalen und hocken uns zum vereinbarten Zeitpunkt hinter den Tisch und erledigen brav Widmungen für Fans.

In die oben gezeigten 11 Bilder legt Vivès eine Menge Stimmung und Information, aber auch hintergründige Gags: das Verhalten der Fans, eine kurze Kollegenbegegnung, den Trouble mit der Bahnrückfahrt, die Verlobung des Sohnes, die elende Routine des Zeichnens bei Historiencomics (Choupain sitzt an einer neunbändigen Weltkriegsserie!), das frostige Wetter in Angoulême (wer veranstaltet ein Festival im Winter?) sowie das Mitschleppen der großen Tasche mit den Originalen.

Die will er dem Kunsthändler Jack zum Verkauf übergeben – doch den wird er im Verlauf des Buches mit schöner Regelmäßigkeit verpassen. Am Ende nutzt Vivès diese Originale für eine Sequenz, die turbulente Situationskomödie ist und wirklich meisterhaft und elegant inszeniert.

Doch zurück zum Beginn: Am nächsten Tag, dem Freitag, steht in der Schlange eine Frau, was an sich schon ungewöhnlich ist. Sie kommt auch nur stellvertretend für ihren Mann:

Wir erleben einen zarten Flirt, ein geschmeidiges Kompliment. Beim späteren Weg durch die Stadt läuft er der Frau erneut in die Arme, in Gesellschaft ihres Mannes. Der lädt Denis spontan zum Diner ein und so lernen sich Denis, Marc und Vanessa näher kennen.

Marc belabert Denis mit seinen Festivalanekdoten (Comicvorlieben, Fanboy-Geschichten, mit Moebius mal ein Bier getrunken), während Vanessa sanft Kontra gibt und Comics oft einfach nur „lustig“ findet, worüber Marc vehement den Kopf schüttelt.

Vivès legt in dieser Szene eine subtile Spannung in die Ehe der beiden Festivalbesucher und setzt seinen Zeichner zwischen die Stühle. Denis bleibt zu beiden Seiten höflich, doch scheint er sich in Vanessa verliebt zu haben.

Am Samstag entwickelt er Ohrenschmerzen, die ihm Gelegenheit geben, Vanessa anzurufen und um Hilfe zu bitten. Ob er wirklich Ohrenschmerzen hat, sich diese wünscht oder ob er nur einen Vorwand sucht, das lässt Vivès offen.

Sie verpasst ihm Paracetamol, er will sie auf einen Kaffee ins Festivalzentrum einladen, scheitert aber an einem sturen Türsteher („Einlass nur mit Armband, nicht mit Festivalausweis“) und wird auf ein Podium gezerrt, wo er mitdiskutieren soll. Den Stress am Einlass lässt Vivès auf einer herrlich stillen Seite verpuffen, wo nur 20 Männeken im Saal einer gelangweilten Runde alter Männer lauschen.

(LETZTES WOCHENENDE IM JANUAR macht mir große Freude und ersetzt mir einen Besuch in Angoulême.)

Danach driftet Denis durch die Stadt und trifft auf Marc, der ihm gesteht, lieber Comiczeichner geworden zu sein. Er habe sogar „Ideen für Szenarios“ gesammelt! Es folgen drei hirnrissige Pitches, die Denis souverän abtropfen lässt.
Ein nächster Spaß ist das folgende Abendessen mit Kollegen; wohlgemerkt „Kollegen“, es sind keine Künstlerinnen anwesend, was Vivès mit seinem Zeichner Choupin in den Vordergrund stellt, als er einen VIP-Ausweis auf einen weiblichen Namen sucht, denn er möchte Vanessa mit einem solchen auf die Festivalparty schleusen.

Schließlich hilft ihm Festivalbetreuerin Karine aus und mit fremden Pässen ausgestattet machen Denis, Vanessa und auch Marc einen drauf. Man trinkt, man tanzt, man raucht vor der Türe. Das junge Talent Leo Mané steckt ihnen, wo eine Hinterhofparty stattfindet – und Denis und Vanessa nehmen Reißaus in die Nacht, während Marc im Festivalbetrieb zurückbleibt.
Auf der wilden Party unter Jugendlichen kommen sich Denis und Vanessa weiter näher. Einer Knutscherei auf der Straße folgt die Wiederbegegnung mit Marc – und ein enttäuschter Denis sieht die Frau, in die er verknallt ist, mit ihrem Mann nach Hause gehen.

Doch der Sonntag, der Abreisetag, steckt voller Überraschungen. Ich zeige nur eine symbolische Seite:

Liebe hinterm Schlumpf: We’ll always have … Angoulême.

Was sind denn das für Leute?!

Man darf sich wundern, was die Figuren hier dar- und anstellen: Denis Choupin, der tranige Zeichner, hat Frau und Kinder – und schwänzt absichtlich die Verlobung seines Sohnes, um eine mögliche Affäre zu haben mit Vanessa, der flotten Ärztin – die ihrem anwesenden Mann Marc glatt davonläuft, um Denis ebendiese Affäre zu ermöglichen.

Sie haben Ehemann Marc schon gesehen und vielleicht bemerkt, dass er wortwörtlich ein Fremdkörper in diesem Comic ist, denn er sieht nicht aus wie eine Figur von Vivès, sondern ist ein Schönling mit Stirnlocke, wie wir ihn in Jungscomics vorfinden. Er sieht aus wie Michel Vaillant. Ehrlich.

Ich vermute darin einen Meta-Witz von Vivès: So wie Frauen eventuell beim Lesen von Comics oder Romanen den kernig-männlichen Protagonisten anschmachten (weil sie daheim einen Normalmann auf dem Sofa sitzen haben), so dreht Vanessa hier den Spieß um und himmelt den nervös-blassen Schöpfer von Comicfiguren an (weil sie daheim den Helden auf dem Sofa sitzen hat).

Glaubwürdig ist die Anziehung zwischen Denis und Vanessa nicht, aber vielleicht als hintergründiger Scherz zu betrachten. Jedenfalls geht es um die süße Sehnsucht nach Begehren, das „Lost-in-translation“-Gefühl zwischen den Geschlechtern, das Driften mit Fremden durch die Nacht, den Zauber der flüchtigen Begegnung.

Ich folge in meiner Analyse dem Kollegen Vermes vom Blog „Comicverführer“ und zitiere ihn gerne in seiner Begeisterung, „wie Vivès Bewegungen und Stimmungen einfängt und auf ein paar Striche und Schatten reduziert. Ein Minimum an Zeichnung, ein Maximum an Wirkung“.

Kein Ehepaar ohne Seitensprung, keine Menage ohne drei. Ja, ja, jahahaha. Erst macht man L’amour, dann isst man noch ein Häppchen im Bistrot. Am Ende gilt wie so oft mein Stoßseufzer-Fazit: Franzosen!

Bastien Vivès, Wunderkind der Neunten Kunst, ist seit etwa einem Jahr eine umstrittene Persönlichkeit in Frankreich. Der Autor ist konfrontiert mit Vorwürfen des Sexismus und verbaler Übergriffigkeit, einige seiner Frühwerke seien bedenklich nah an strafrechtlich relevanten Inhalten.

Ich kann dazu nichts sagen, aber Fakt ist, dass eine Ausstellung mit seinen Werken in Angoulême an diesem letzten Wochenende im Januar abgesagt wurde.
Serviert Vivès uns aus Rache einen Angoulême-Comic? Oder als Versöhnungsangebot? „Ich liebe euch doch alle, ihr verrückten Comicmenschen!

Wie dem auch sei: Ich linke noch die Homepage zum Verlag schreiber&leser sowie meine Besprechung des einzig anderen Vivès-Werks, das ich je gelesen habe: seinen CORTO MALTESE von 2021.

Auch gebe ich pünktlich zum Wochenende ein Geblätter ab: