Umweltbewusster Body Horror:  REDFORK

Ein Heiler vollführt sein Ritual: Die sterbenskranke Eunice, deren Hals von wucherndem Schilddrüsenkrebs monströs angeschwollen ist, wird mit einem magischen Mineral behandelt. Die Frau schreit entsetzt auf, alle Adern treten ihr hervor, Blut schießt aus ihrem Mund, dann fällt sie auf die Knie und erbricht einen kiloschweren Tumor – um im Anschluss erfreut aufzuatmen: Der Krebs hat sie verlassen.

Wo gibt’s denn so was Krasses?
Im Horrorcomic REDFORK, der neben seinen Schockeffekten erfreulich komplex ist und uns in eine Welt entführt, die wir sonst nicht im Comic erleben: eine abgewirtschaftete Bergarbeitersiedlung in West Virginia.
(Ambiente und Personal erinnern mich an manche Folgen der TV-Serie „Justified“, die im benachbarten Kentucky spielt.)

Noah McGlade kommt nach sechs Jahren aus dem Knast zurück in sein Heimatstädtchen Redfork, im Nordosten der USA.

Noah trifft seinen Kumpel Donald wieder.

 

Er hat gesessen, weil er mit seinem jüngeren Bruder Cody nachts in eine Zahnarztpraxis eingebrochen ist, um dort Drogen und Medikamente zu stehlen.
Dummerweise hat sie der Zahnarzt überrascht. Im sich anschließenden Handgemenge wird der Mann schwer verletzt – allerdings von Cody. Der große Bruder Noah nimmt die Schuld auf sich und sitzt klaglos die Haftstrafe ab. Im Gegenzug übernimmt Cody Verantwortung, schuftet im Bergwerk und sorgt für die finanzielle Unterstützung der Eltern sowie von Noahs schwangerer Freundin Unity.

Der aus dem Ruder gelaufene Einbruch: Noah entschließt sich sekundenschnell, seinen kleinen Bruder Cody nicht als Täter dastehen zu lassen.

 

Als der schmächtige Noah als gestählter Bodybuilder aus dem Knast zurückkehrt, findet er die Verhältnisse zum Schlimmeren verändert vor: Der Minenkonzern Amcore beutet seine Arbeiter noch ärger aus als früher schon, es wird gestreikt, Noahs Vater ist mit einer Staublunge ans Bett gefesselt, Unity ist opiatsüchtig, sein bester Kumpel Donald ist opiatsüchtig, der halbe Ort ist opiatsüchtig, seine schulpflichtige Tochter Harper ist asthmakrank.

Noahs Heimkehr ist wie ein Stich ins Wespennest: Alle machen ihm Vorwürfe und greifen ihn sogar physisch an (denn was wirklich in der fatalen Nacht vor sechs Jahren geschah, ist und bleibt das Geheimnis der Brüder)!

Nur Cody ist aufrecht geblieben: Der jüngere Bruder hält den Laden zusammen, er ist Streikbrecher und schuftet weiter im Berg – was ihm jedoch zum Verhängnis wird. Als die Amcore-Trupps immer tiefer ins Gestein eindringen, stoßen sie auf eine Anomalität. Kaum wundert sich Cody, dass er Teer findet, da fliegt ihm der Berg auch schon um die Ohren.

Damit beginnt der „supernatural part“ von REDFORK, denn Cody ist nicht tot (wie er sein müsste), sondern wird von einem geheimnisvollen, altertümlich redenden Bergmann, der sich Gallowglass nennt, aus den Trümmern gezogen und nach oben ins Freie geleitet.

Dieser „Gallowglass“ ist eine mythische Kreatur (etymologisch vom Schottisch-Gälischen für „Fremder“) und war einst Gregor Paisley, einer der Gründer von Amcore, den man dem Berg geopfert hat. Bei der Exploration der Mine trafen Gregor und sein Bruder Rupert auf eine unförmige Wesenheit im Erdkern des Berges. Als Preis für den Abbau der reichhaltigen Kohlevorkommen ließ Rupert seinen Bruder als Geisel im Berg zurück.

Gregor alias Gallowglass hat sich im Lauf der Jahrzehnte zu einem Agenten des Bergwesen gewandelt, unsterblich und formwandelbar. Durch die Rettung Codys kommt er aus seinem unterirdischen Gefängnis frei und beginnt sein Zersetzungswerk unter den Menschen von Redfork.

Das ist folkloristischer Horror, der einer beseelten Natur entspringt.

Dem britischen Autor Alex Paknadel gelingt es, die esoterische Prämisse in einen griffigen, modernen Stoff zu wandeln, der niemals kitschig oder moralisierend gerät. Im Gegenteil inszeniert Paknadel das Grauen im Berg als packende Lovecraftiana mit eskalierendem Body Horror.

Erst taucht der Fremde (Gallowglass) im Städtchen auf und beginnt, die lungen- und drogenkranken Menschen zu heilen, dann wird klar, dass diese Heilungen einen furchtbaren Preis fordern und einem ultimativen Plan dienen.

Gallowglass will das Ding im Berg entfesseln (na, klingt das nach Lovecraft, oder nicht?), ihm entgegen steht zunächst nur Jane Paisley, die Urenkelin des schurkischen Rupert Paisley, die heute die Geschäfte von Amcore führt – und herausfinden will, wer dieser Gallowglass ist, der die Leute auf seine Seite bringt. Ist er der wahre Anführer des Minenstreiks?

Noah und seine gesamte Familie geraten in den Sog der Ereignisse, erkennen nach und nach die wahre Natur des Fremden vom Berge, rekonstruieren mit Jane die Historie von Redfork und stellen sich einem verzweifelten Kampf gegen scheinbar übermächtige Gegner.

Tragödie unter Tage: Jane konfrontiert Gregor, der sie in den Berg hinein verfolgt; der zum Erdmonster mutierte Cody hilft seinem Bruder Noah; Unity verwandelt sich und Noah nimmt sich schützend seiner Tochter Harper an.

Der Berg ruft

 

Großen Anteil am Gelingen dieses Comics hat natürlich Zeichner Nil Vendrell, ein Spanier, der mit seinen Bildern manchmal nur Standard-Artwork liefert, manchmal aber auch zaubert – wie auf den folgenden zwei Seiten: Gallowglass heilt mit seiner magischen „Schneekohle“ aus dem Berginnern den sterbenden Staublungen-Patienten McGlade Senior:

Auch wenn sich McGlades Körper auflöst und wie tot scheint, wird der gute Mann im nächsten Kapitel frisch und munter herumspazieren. Auf diesen beiden Seiten macht Vendrell klar, dass diese Heilung nur eine teuflische Transformation sein kann und dass Nebenwirkungen eintreten, hier angedeutet am Massensterben der Krähenvögel.

Die Sequenz erklärt auch, weshalb ich REDFORK als Body Horror klassifiziere. Im weiteren Verlauf des Albums werden sich weitere Körper grauenvoll auflösen, zersetzen, überwuchern und platzen.
Auch wenn ein derber Splatter-Horror Einzug in diesen Seiten hält, verliert dieser Comic nie seine Bodenhaftung: Er kümmert sich um seine Figuren, er findet einen schön gesteigerten Handlungsbogen und präsentiert echtes Drama, denn der Showdown in der Mine schließlich fordert viele Opfer, auch liebgewonnene Figuren.

Das Wiedersehen von Noah und Unity ist grafisch arrangiert um einen schwarzen Erdtrichter, der sich vor dem Wohnwagen gebildet hat. Der wirkt jedoch so undefiniert, dass wir ihn auch als das „schwarze Loch“ interpretieren dürfen, dass sich in der Beziehung der beiden Personen aufgetan hat.

 

Und wieder überrascht mich der Verlag TKO Studios mit einem Stoff vom unteren Ende der Gesellschaft. Nach dem grandiosen Obdachlosen-Paranoia-Thriller GOODNIGHT PARADISE  erleben wir in REDFORK hautnah den Überlebenskampf von Bergarbeiter-Familien in West Virginia (uns nahegebracht auf radikaler Grusel-Folie).

Kurioser Krimi: GOODNIGHT PARADISE

REDFORK ist eine gelungene Mischung aus Sozialdrama und Horror-Entertainment, perfekt ausgewogen noch dazu: nicht zu flott, nicht zu langatmig – ein Geheimtipp für „Splatter mit Anspruch“ (Trademark Tillmann Courth).

(Der Autor beantragt außerdem Titelschutz für die Schlagzeilen „Wenn der Bergmann zweimal winselt“, „Lass spucken, Kumpel“ sowie „Glückauf, der Cthulhu kommt“.)

Für den besseren Gesamteindruck offeriere ich ein Blätter-Video auf Instagram.

 

Bonusquatsch: The Hills are Alive

The Hills are Alive … with the Sound of Music“ ist ein Song aus dem Musical „The Sound of Music“.
Hier in REDFORK müsste es heißenThe Hills are Alive … with the Sound of … ähm … Decomposing Bodies“?