Peter („Pete“) Milligan hat’s immer noch drauf. Der Londoner Comicszenarist gehörte zur „British Invasion“ englischer Autoren, die ab Mitte der 1980er-Jahre in den USA eine Heimat bei DC Vertigo fanden, um Comics frischen Wind einzuhauchen.
Ich war immer ein Fan seiner „High-Concept“-Ansätze, die Geschichten von nie gekannter Absurdität präsentierten. Angefangen beim psychedelischen ROGAN GOSH über den krassen SKIN und das eigenwillige SHADE THE CHANGING MAN bis hin zum haarsträubenden ENIGMA und dem mystischen GREEK STREET.
Sein größter Erfolg dürfte die Thrillerserie HUMAN TARGET sein, 2010 in zwei Staffeln als Serie für den Sender Fox umgesetzt.
Mit ABSOLUTION präsentiert sich Milligan als ausgebuffter Satiriker und holt sich Zeichengott Mike Deodato Jr. an die Seite.
In diesem schmalen Tradepaperback erleben wir eine atemlose Menschenjagd, fast in Echtzeit. Nina Ryan ist unsere Hauptfigur, ihres Zeichens Attentäterin de luxe. Sie war die soziopathische Killerin eines Gangstersyndikats und hat über 150 Menschen auf dem Gewissen.
Nach ihrer Verhaftung haben die Behörden einer Megalopolis in dieser düsteren Zukunft Nina umprogrammiert. Sie haben ihr ein Gewissen eingepflanzt – sowie tödliche Implantate zur „Notabschaltung“.
Denn Nina wird wieder auf die Gesellschaft losgelassen, jedoch als Akteurin einer perfiden Unterhaltungsshow namens „Absolution“: Nina muss möglichst kunstvoll böse Menschen liquidieren, um ihr Publikum zu unterhalten und einen Score von 100% zu holen, damit sie rehabilitiert ist.
Hier sehen wir Nina, wie sie ihr erstes Opfer anschleicht:
Das könnte ein stupider Killercomic sein, doch Milligan und Deodato implantieren (harhar) nette Erzähltricks, die dem Ganzen einen frischen Anstrich geben.
Erster Trick: Wir verfolgen die Handlung aus Ninas Perspektive und mit ihr als Erzählstimme. Das macht uns die Figur, die mit ihrer Vergangenheit und mit ihren Skrupeln kämpft (und sich den Kopf zerbricht, wie sie am besten den Highscore holt), durchaus sympathisch.
Zweiter Trick: Live eingespielt bekommen wir die Kommentare der sensationsgierigen Zuschauer, die so dumm sind wie im echten Leben. Und Nina sieht in einem optischen Display, was da gesagt wird – und kann darauf augenblicklich reagieren.
Das ist eine effektiv eingewobene Metaebene, die uns die Welt von Nina und ihrem perversen Publikum drastisch vor Augen führt, wortwörtlich.
Auch dieses Stilmittel verwendet Milligan nicht „l’art pour l’art“, sondern verschafft ihm im Mittelteil handlungstreibende Bedeutung: Die Zuschauerin „magicah“ chattet mit Nina und bittet sie, ihren Peiniger als nächstes Opfer auszuwählen!
Die junge Frau wird von ihrem Arbeitgeber, dem mächtigen Blake Gerard, vergewaltigt.
Nina trifft sich mit der verzweifelten Magicah und akzeptiert den Job:
Doch auch dieses Handlungselement dient nicht nur plumper Spannung, sondern erhält eine Anbindung an aktuelle #metoo-Diskurse. Sind übergriffige Prominente durch ihr Heer von Anwälten und eine patriarchale Justiz geschützt vor Verfolgung? Braucht es freiberufliche Killer, die unsere Gesellschaft von solchem Geschmeiß befreien?
ABSOLUTION ist dunkle Satire unserer Sensationslust und gleichzeitiger Lethargie!
Milligan und Deodato inszenieren diesen Aspekt, indem sie immer wieder eine Fernseh-Talkrunde das Geschehen kommentieren lassen: Ein Moderator, eine Wissenschaftlerin und ein ehemaliger, erfolgreicher „Absolution“-Teilnehmer verhandeln Ninas Aktionen unter mehreren Gesichtspunkten:
Und den Rest dieses Comics verrate ich nicht! Ich schieße lieber einige Fragen ab, um Sie darauf heiß zu machen.
Kann Nina den fiesen Blake Gerard umlegen? Was sagen ihre Fans und Hater dazu, die ihren Score bestimmen dürfen? Wird dieser Score jemals für die Vergebung ihrer begangenen Sünden (die Absolution) reichen? Ist sie auf ewig gefangen in einem brutalen System, das nur gewaltsamen Tod kennt? Oder kann Nina sich befreien und ein selbstbestimmtes Leben erlangen?
Grüße von der „Klapperschlange“
Die Älteren unter uns haben wahrscheinlich an den Filmklassiker von 1981 gedacht: „Die Klapperschlange“ von John Carpenter. Kurt Russell kämpft gegen die Zeit, denn wenn er bis zum vereinbarten Zeitpunkt nicht seinen Job erledigt hat, explodiert der Sprengstoff, den man seiner Figur Snake Plissken in den Nacken implantiert hat.
Auch dass Menschen wie Gladiatoren in tödliche Kämpfe geschickt werden und dabei von einem Publikum bewertet werden, ist nichts Neues.
Aber die Kunst eines Autoren wie Milligan besteht darin, aus vorhandenen Versatzstücken einen frischen Stoff zu stricken. Die Bombe im Körper macht er zu vielen kleinen Miniatur-Sprengsätzen, die unsere Heldin sadistisch langsam zu zerstören drohen. Eine Kostprobe davon bekommen wir natürlich in der Heftmitte geliefert:
Die große Verrohung
Die Welt von ABSOLUTION ist ein finsteres Gotham, in das kein Sonnenlicht fällt. Man fragt sich, wie Menschen dort überhaupt leben können, denn sie scheinen das Freiwild der Brutalen und Reichen zu sein.
Polizei gibt es hier nicht und das ist die nächste Pointe von Milligan: Eine dreckige Welt kennt nur Drecksarbeit – und die überlässt man traditionell denen, die sowieso nichts mehr zu verlieren haben.
Man zeigt uns eine Mediokratie, ein Herrschaftssystem der Quoten, das die Menschen vor sich her treibt und in eine Abhängigkeit höchst willkürlicher, wechselnder Leitlinien zwingt. Auch zeigt der Comic auf, in welche Extreme die Selbstjustiz der sozialen Medien führen kann.
Hier ein stiller Moment, indem eine müde gewordene Nina damit hadert, dass sie ihren Followern ausgeliefert ist und eigentlich nicht gewinnen kann:
Und Autor Milligan wäre kein Brite, wenn er nicht en passant weitere sarkastische Boshaftigkeiten im Comic platzieren würde. Es gibt eine Passage, in der Nina einen Hund erschießt, der sie angreift.
Prompt setzt es einen Shitstorm, sie sei ja wohl krank („How could you?!“).
Von genau den Leuten, die applaudieren, wenn Nina auch unbewaffnete Gegner verstümmelt oder kaltmacht. Menschen sind alle Abschaum, das wird nicht hinterfragt, aber einen Hund umbringen? Das geht zu weit!
Kann denn Morden Sünde sein?
Zum Schluss stellt sich für Nina (und auch für uns) die Frage, ob ihre zahlreichen Morde sie zu einem besseren Menschen gemacht haben. Und für genau solche schrägen Aspekte liebe ich meinen Pete Milligan!
ABSOLUTION ist keinen Moment langweilig, das liegt auch am superben Artwork von Mike Deodato Jr., der hier sein Creator-Self ausleben darf und seinen Burn-out von 25 Jahren Marvel überwindet.
Schauen Sie daheim überhaupt mal ins digitale Regal beim Verlag AWA.
Die produzieren seit gut fünf Jahren knackige Stoffe mit guten Leuten wie J. Michael Straczynski, Cullen Bunn, Christa Faust und Garth Ennis.
Empfehlen kann ich auch BAD MOTHER, geschrieben von Christa Faust und erneut inszeniert von Mike Deodato Jr.
AWAs größter Erfolg dürfte der Zombiecomic YEAR ZERO sein, den ich bereits besprochen hatte (mittlerweile auch auf Deutsch bei CrossCult erhältlich).
Für einen weiteren Eindruck blättere ich noch durch das Werk: