Jetzt wird’s speziell: eine Graphic Novel über die Gentrifizierung der spanischen Küste!
Ich find sie sensationell, stelle aber gleich eine Warnung voraus: Wenn Sie keine Beziehung zu Spanien haben, wird Ihnen dieser Comic nichts geben.
SONNENSEITEN atmet Spanien. Jedes einzelne Panel transportiert die Dinge, wie sie im Süden sind: die Häuser, die Einrichtung, die Nahrung, die Kleidung der Menschen. Es fehlt nur der typisch spanische Geruch nach Reinigungsmitteln.
Ich greife willkürlich eine Szene heraus: Hier betritt eine spanische Seniorin ihr Zuhause – und alles ist stimmig. Das Einkaufsnetz, die Fenster und Tore, die Nachbarn auf der kargen Straße, deren Frisuren, der Zaun, der Vorhang, die Frau aus der Vergangenheit (so haben alte Frauen noch in den 1980er-Jahren ausgesehen):
Ana Penyas, die Künstlerin aus Valencia, hat einen gnadenlosen Blick auf ihre Heimat geworfen. Auf jeder Seite kreiert sie eine Atmosphäre, die kalt scheint (blasse Farben, ausdruckslose Gesichter), aber doch von Nostalgie und Wehmut durchzogen ist.
Ihr Spanien erstarrt in Facetten, doch sind der Facetten so viele und detailgetreue, dass SONNENSEITEN eine traumartige Qualität entwickelt.
Das ist kein Comic zum Runterlesen, denn er verweigert sich einer flüssigen Handlung. In acht Kapiteln springt Penyas mit uns durch die Zeit, von 1969 bis 2019, und präsentiert uns die Entwicklung einer ungenannten Stadt am Meer.
Es gibt Figuren, denen wir folgen – darunter den Hotelangestellten Alfonso und seine Verlobte Amparo, die eine Familie mit drei Kindern gründen. Mir ist es nicht gelungen, die Figuren auseinanderzuhalten bzw. deren Entwicklung konkret zu verfolgen, aber darum geht es auch nicht.
Diese Familie ist ein Spielball des kapitalistischen Systems. Punktuell erkenne ich, in welchem Lebensabschnitt sich ihre Mitglieder gerade befinden oder wie sie um ihr Überleben kämpfen. Letzteres meine ich nicht existenziell, sondern politisch. Alfonso und seine Kinder haben ihr Auskommen, doch sie müssen sich Nischen in prekärer Beschäftigung suchen.
Der Sohn Pablo wird sein Leben lang nur Hilfsarbeiter auf dem Bau sein oder Wohnungen in der Stadt für neue Nutzung kernsanieren. So sind die Verhältnisse. Die Familie muss am Ende selbst ihre eigene Wohnung den aufdringlichen Investoren überlassen und sich neu orientieren.
SONNENSEITEN ist eine Verlustgeschichte. Verlust von Gewissheiten. Verlust der Identität. Verlust von Traditionen.
Verlust der Unschuld
Ich könnte weiter schwadronieren. Zu Beginn sind wir im Franco-Spanien und erleben die Geburt der „Heuschrecken“: Bei ein paar knackigen Gambas beraten erste Investoren im Jahr 1969, wie sich eine Vision von Tourismus an der spanischen Küste realisieren ließe.
Alfonso wird als Kellner Zeuge der Szene, denkt sich aber nichts dabei. Sondern hofft auf eine Karriere im boomenden Hotelbusiness. Dass er dafür ein Stück der spanischen Seele verkauft, ahnt er nicht. Der Dialog auf der ersten Seite bezieht sich auf Probleme mit der Wasserversorgung der Touristikanlagen (im Süden immer ein Thema), für das Dörfer im Inland „bluten“ müssen.
Mich hat schon voll das gesellschaftskritische Fieber gepackt, dabei ist das nicht der Duktus von SONNENSEITEN. Dieser Comic ist natürlich tendenziös und antikapitalistisch, hält sich aber mit offener Stellungnahme zurück. Dieses Werk beobachtet klug aus der (Halb-)Distanz. Übrigens bleiben wir die 140 Seiten bei der vorgestellten Familie.
Niemand der Figuren thematisiert den Ausverkauf und die Nachteile des Massentourismus. Im Gegenteil: Unsere Familie engagiert sich im strukturellen Wandel, eine Tochter arbeitet sogar für ein deutsches Architekturbüro, das aufgekaufte Häuser in Innenstädten zu schicken Kulturzentren und Hostels umwidmet.
Penyas ist klar, dass die Moderne nicht zu stoppen ist. Aber sie lässt uns innehalten und reflektieren. SONNENSEITEN endet fast auf einer bitteren Note. Ein Straßenflohmarkt und eine Vernissage zum Thema „Souvenir“ symbolisieren die Vergänglichkeit und die mitunter ironischen Auswirkungen des Tourismus in Wechselbeziehung zur globalisierten spanischen Mittelschicht.
Bittersüß, Herrschaften, bittersüß!
Grüße vom Prekariat
Ana Penyas gestaltet ihre Graphic Novel meist mit Buntstiften, verfremdet ihre Arbeit jedoch zusätzlich mit Foto-Collagen und Textur-Inserts. Zudem pfeift sie auf korrekte Perspektiven und die Dimension der Räume. Ein Hauch von naiver Malerei mag sich auch einschleichen. Heraus kommt ein struppiges, fast grobschlächtiges Bilderbuch, das auf keinen Fall „schön“ sein möchte.
Ihre flächigen Kompositionen wirken oft wie Postkarten. Malerische Hilferufe eines geschundenen Landes an uns. Oder, eine rhetorische Nummer kleiner: Schnappschüsse einer Familie, die das Pech hatte, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein.
(Die Sicht der „Heuschrecken“ ist eine andere: Unbegrenzte Expansionsgelüste befeuern die Goldrausch-Stimmung an der Küste.)
Zwischen die Kapitel setzt Penyas kleine „Trenner“, Dokument-Fundstücke, die sie in ihr Werk hineinwebt. Die sind zum Teil skurril (sorg- und sinnlose Fernsehshows bzw. fragwürdige Werbeprospekte), zum Teil dramatisch und direkt (enteignete Menschen bzw. Baulöwen, die die Finanzkrise bejammern).
SONNENSEITEN fungieren als Momentaufnahmen eines Spaniens im Wandel der Jahrzehnte. Die Verdrängung der agrikulturellen Vergangenheit zugunsten eines Dienstleistungsangebots für den internationalen Massentourismus ändert nicht nur das Gesicht der Landschaft, sondern auch der Gesellschaft.
Natürlich ist das nicht alles grauenvoll (wer hätte nicht schon einen hübschen Urlaub an der Costa del Sol verbracht?), aber es hat seinen Preis – und den zahlen die Spanier. SONNENSEITEN lädt zur Diskussion ein: Der Tourismus ist nicht nur des Teufels, sondern sorgt für Modernisierung, auch der Lebensentwürfe.
Aber musste man denn gleich die komplette Küste lückenlos zubetonieren?!
Dazu eine persönliche Schlussbemerkung: Meine Frau und ich besuchen seit Jahrzehnten Andalusien, wir lieben die (inzwischen schwer gentrifizierte, aber immer noch charmante) Hafenstadt Málaga, aber sind jedes Mal aufs Neue entsetzt, dass auch 2022 noch wüste Bauprojekte sich in letzte Brachen hineinfressen.
Die Costa del Sol ist ein grotesker, architektonischer Alptraum. Ich gebe zu, dort mit großem Staunen (und oft auch Amüsement) entlang zu flanieren.
Und es gibt sie wirklich: Die sonnenverbrannten Engländer, die uns Deutsche die Köpfe schütteln lassen. Kicher:
Wer weitere Infos möchte, kann die Verlagsseite bei bahoe books einsehen (dort auch kleine Leseprobe einsehbar) oder mit mir noch durch den Band blättern: