Ist es fair, die Umsetzungen einer literarischen Vorlage in andere Medien zu vergleichen?
Vor zwei Wochen habe ich hier die beiden Verfilmungen von „Hexen hexen“ kontrastiert (und versprochen, noch eine Comicfassung zu präsentieren).
Das tue ich hiermit, werde aber nicht darauf eingehen, wie sich der Film von 1990 (der neue ist zu frisch, um als Inspiration gedient zu haben) vom Comic unterscheidet, nur so viel: Die Comicadaption von Pénélope Bagieu gefällt mir besser als beide Filme!
Im Folgenden möchte ich mich auf den Comic fokussieren und demonstrieren, was Bagieu alles richtig macht und worin die Stärke ihrer Version liegt.
Zunächst einmal eröffnet der Comic mit einer drei Seiten langen Tagträumerei des namenlosen Jungen, der die Hauptfigur ist (die zeige ich im Instagram-Video, Link dazu ganz am Ende dieses Artikels).
Aus seinem Spiel gerissen wird der Junge von seiner Oma, die als höchst skurriles Persönchen dargestellt wird: mit blau gefärbten Seniorenhaaren, einer kreisrunden Glasbausteinbrille sowie einer Liebe zu qualmigen Zigarillos. Noch dazu ist sie so winzig und vermeintlich harmlos, dass sie nur mit Mühe über den Küchentresen schauen kann.
Sie möchte ihren Enkel mit Eiscreme aufmuntern, denn die Szenerie ist die eines Trauerhauses. Beide tragen Schwarz, Blumensträuße stehen herum, der Junge ist niedergeschlagen.
Noch ist uns unklar, was passiert ist. Dazu gestaltet Bagieu eine Folgeszene, in der der Junge nachts ins Bett der Oma klettert. Offenbar hat es einen fatalen Autounfall gegeben. Die Oma hängt sehr an ihrem Enkel, was sie durch zu festes Drücken des Jungen zum Ausdruck bringt.
Pénélope Bagieu flicht Humor in die Szene ein, indem sie die Oma im Bett rauchen und einen komischen Schwur tätigen lässt.
Die Oma beginnt, dem Jungen von Hexen zu erzählen. Doch ehe sie von den modernen Hexen berichtet, räumt sie mit überholten Hexenvorstellungen auf. Auch das eine sehr lustige Passage, auf die die Filme verzichtet haben. Ein Comic kann das natürlich ruckzuck und ohne Aufwand vermitteln.
Wieder haben mich zwei Details erfreut: Die Hexe auf dem Besen, die einen ironisch-gelangweilten Kommentar gibt – und die Nackte, die mit dem Teufel tanzt (denn sie sieht der Oma ähnlich).
Oma also weiß Bescheid über Hexen und ihr Enkel ebenso. Bald wechseln wir in das Hotel, in dem die Hexenversammlung stattfindet. Dorthin jedoch muss unser Paar von einem netten Doktor geschickt werden, der auf Hausbesuch kommt, als die Oma mit einem Hustenanfall zusammenbricht.
Wieder weise ich auf die Komik hin, die Bagieu in ihre Gestaltung einbaut. Die Oma zofft sich mit dem Arzt über ihr Alter, des Weiteren gelobt sie, mit dem Rauchen aufzuhören. Aber nicht wirklich, wie die stummen Panels auf Seite 2 in der zweiten Reihe klarmachen:
Wir springen jetzt mal zur Hexenversammlung ins Hotel.
Autor Roald Dahl scheint mir nicht der Großmeister der Dramaturgie gewesen zu sein, seine Erzählung läuft stur linear und vorhersehbar ab: Oma und Enkel kommen im Hotel an, Hexen kommen im Hotel an, Enkel spielt im Versammlungssaal, Hexen betreten Versammlungssaal, Enkel belauscht Hexen, Hexen offenbaren ihre Pläne.
Auftritt der Großmeisterhexe: Die illustriert Bagieu als keifende, grünäugige, klauenbewehrte Furie, deren beunruhigend schadhaftes Gebiss weiter und weiter auseinanderklaffen zu scheint. Ja, Zahnhorror macht immer Angst!
Sogleich verklickert die Oberhexe ihren Kolleginnen den Plan, alle Kinder Englands auszurotten. Nachdem man den Jungen und Mädchen mit einem Zaubertrank vergiftete Süßigkeiten geschenkt hat, setzt eine Langzeitwirkung ein: Wer auch nur einen Tropfen von „Formula 86“ eingenommen hat, verwandelt sich unabänderlich in eine Maus.
Doch damit nicht genug. Mäuse gelten als Ungeziefer – und Ungeziefer wird vernichtet!
Sehr hübsch finde ich den saloppen Abschiedsgruß der Großmeisterin im letzen Bild.
Das sind Mechanismen, die ein Comic leisten kann. Der Film könnte das auch, doch ein Film funktioniert in szenischen Abläufen und nicht auf übereinander gelagerten Ebenen. Will sagen: Auch in einer Verfilmung könnte die Oberhexe ins Bild springen und „Tschüs, ihr Knirpse!“ rufen.
Doch einer Comickünstlerin wie Pénélope Bagieu liegt dieser Kunstgriff näher, weil sie „flächig“ denkt und Bildkomponenten synchron arrangiert.
Ebenfalls im Film vermissen musste ich die konkrete Formel für den Zaubertrank. Bagieu hat sie ermittelt (die erwähnte „Formula 86“) und stellt sie uns zum Mitschreiben und Nachbrauen auf vier Seiten vor.
Ich zeige sicherheitshalber nur die ersten beiden (do not try this at home, kids).
Allein über die Ingredienz Nummer 1 (das falsche Ende des Fernrohrs, was man weichkochen muss) könnte ich mich schon beömmeln.
HEXEN HEXEN als Comic funktioniert hervorragend, weil man in eigenem Tempo dem Bildfluss folgen kann (Binsenweisheit) und nicht auf Filmeffekte starren muss – vor allem aber funktioniert dieser Comic, weil Pénélope Bagieu den Stoff unverschämt locker und mit einer Menge Humor inszeniert.
Zum Beleg zeige ich noch die „Türschlangen-Szene“ (auch in keinem Film): Die aufgekratzten Hexen belagern das Zimmer der Großmeisterhexe, die ihnen den Trank aushändigen soll. Im Folgenden ist die Ärmste gezwungen, eine bürokratische Ordnung auf dem Flur zu organisieren.
Das hat Anflüge von ASTERIX-Komik, vielleicht eine leise Hommage an den Stoßseufzer eines römischen Kommandanten angesichts seiner desolaten Truppe: „Sie sind alle so dumm, und ich bin ihr Anführer.“
Eine weitere Binsenweisheit ist, dass man auch im Comic „Cliffhanger“ gestalten kann, nämlich durch das Umblättern der Seite. Auch dieses Mittel setzt Bagieu an einigen Stellen ein, so hier, bei der Entdeckung des Vorrats an „Formula 86“-Fläschchen.
Wo bewahrt man in einem Hotelzimmer kleine Flaschen auf? In der Minibar natürlich!
Sehen Sie, wie der (nun zur Maus verwandelte) Junge in Kooperation mit der Partnermaus (in der Comicfassung übrigens ein Mädchen) das Versteck findet:
Die beiden tapferen Mäuse bestehen ihr Abenteuer, entwenden der Oberhexe ein Fläschchen Zaubertrank, schleichen sich in die Küche, schütten es in die Suppe und beobachten genussvoll, wie sich die versammelte Hexenbande beim Abendessen damit vergiftet und in Mäuse verwandelt.
Muss ich erneut betonen, wie gut mir die humoristische Aufbereitung der Szene gefällt?!
Verhextes Fazit: Ein schöner Comic für die Jugend und alle, die sich von Comics verzaubern lassen möchten.
Ein Comicbuch, das mich jubeln lässt – so wie die fidele Großmutter, als die Oberhexe von einem Topf plattgemacht wird. (Auf den Tisch bin ich dazu nicht gestiegen, aber auf dem Stuhl geschubbert hab ich, aber hallo).
In meinem Instagram-Blättervideo präsentiere ich den Gesamteindruck von HEXEN HEXEN sowie weitere Seiten, die auch wunderschön sind.
Natürlich können Sie sich den Comic auch auf der Verlagsseite anschauen.