SLAUGHTERHOUSE-FIVE: Zen in Comicform?

Jetzt wird’s esoterisch. Dieses Comicbuch ist Zen – gegossen in eine Graphic Novel.
SLAUGHTERHOUSE-FIVE  ist eine staunenswerte Revue des Lebens, ohne Anfang, ohne Ende. Dieses Werk fühlt sich an wie eine Traumerzählung, deren Episoden jedoch mit gnadenloser Logik verknüpft sind.

Obwohl sich dieser Comic konventionellen Erzählmustern verweigert, tut er dies so kunstvoll, dass man sie an keiner Stelle vermisst. Im Gegenteil: Ich möchte ewig durch diese Seiten treiben und wünschte mir, es gäbe Fortsetzungen.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, Kurt Vonneguts verwirrenden Roman „Schlachthof 5“ so sinnfällig und clever grafisch umzusetzen. Ich möchte Sie allerdings bitten, zu Beginn dieser Besprechung diesen exzellenten Wikipedia-Eintrag zum Werk aufzurufen und sich schnell über den Stoff zu informieren.

Der US-Amerikaner Billy Pilgrim gerät 1944 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Doch während der Märsche, die ihn nach Dresden führen werden (wo er die Bombardierung der Stadt in einem Schlachthofkeller überlebt), macht er die schockierende Erfahrung, sich „aus der Zeit zu lösen“: In willkürlicher Reihenfolge besucht er Stationen seiner Zukunft (als braver Optiker im Staat New York!).

Für einen besseren Gesamteindruck habe ich Doppelseiten aus dem Werk fotografiert.
Sie können diese durch Anklicken vergrößern, müssen aber nicht alle Sprechblasen lesen (was zum Teil wahrscheinlich auch kaum möglich ist).

 

Zeitsprung vom Absturz auf einer Party in den Sechzigerjahren zurück in den Zweiten Weltkrieg.

 

In diesen Visionen (bzw. Lebensabschnitten) hat er Frau und Kinder, ein erfolgreiches Geschäft, lernt den Pulpschreiber Kilgore Trout kennen und wird von einem UFO entführt. Die freundlichen Aliens vom Planeten Tralfamador stecken ihn für einige Jahre in einen außerirdischen Zoo, was Billy nichts ausmacht. Denn als Gefährtin besorgt man ihm das Nacktmodell Montana Wildhack, zudem erleuchten die Tralfamadorianer ihn mit kosmischer Erkenntnis.

Zeit ist eine Illusion, denn alle Momente eines Daseins existieren parallel auf immer weiter. Achten Sie auf den Text rechts unten: „Sehen Tralfamadorianer eine Leiche, sehen sie nur einen ungünstigen Moment im Leben dieser Person. In jeder Menge anderer Momente geht es dem Betreffenden prächtig.“

 

Ich habe eingangs gesagt, SLAUGHTERHOUSE-FIVE  sei eine staunenswerte Revue des Lebens. Noch dazu ist der Stoff äußerst kreativ umgesetzt (das Skript stammt von Ryan North, der für Marvel SQUIRREL GIRL erfand) und knackig illustriert von Albert Monteys (ein Spanier, der zuvor fünf Jahre Chefredakteur beim wöchentlichen Satireblatt EL JUEVES war).

Monteys beherrscht also den trockenen Semifunny-Stil, der ihm einen pointierten, leisen Humor erlaubt. Als Beispiel präsentiere ich diese Seite aus dem Veteranenhospital:

Billy verkriecht sich in sichtverhüllenden Laken, wenn seine Mutter zu Besuch kommt. Jetzt zieht er sie ab, als er hört, seine Frau sei da (offenbar schon länger). Auch machen wir Bekanntschaft mit der Nebenfigur Eliot Rosewater, der Billy mit dem Werk des Science-Fiction-Autors Kilgore Trout vertraut macht.

 

Kilgore Trout ist ein weiteres Alter Ego (wie Billy) von Kurt Vonnegut. Der Groschenheftschreiber Trout ist inzwischen so weit gesunken, dass er Comics skripten muss! Seine menschenfreundlichen Texte werden zu belanglosen Silver-Age-Heftchen illustriert.
Im Folgenden zwei Seiten eines Kilgore-Trout-Comics, dessen Darstellung der Aliens nahelegt, dass auch Trout (wie Billy) von den Tralfamadorianern entführt wurde (so sehen sie nämlich aus):

 

Inhaltlich geht es hier um das Konzept des Christentums und den Kreuzestod Jesu, mit dem Trout/ Vonnegut nicht einverstanden ist. SLAUGHTERHOUSE-FIVE ist auch ein strukturalistisch zu lesender Comic, der immer wieder Motive aufgreift und diese variiert.

Aber ich muss Ihnen noch eine Szene mit „echten“ Tralfamadorianern liefern, richtig?

Der „Menschenzoo“ auf Tralfamador. Billy beantwortet Fragen der Besucher.

 

Mir ging es auch so, dass mir SLAUGHTERHOUSE-FIVE eine Menge über die US-amerikanische Mentalität vermittelt: Arglose Menschen, die ihren materialistischen Alltag nicht groß hinterfragen, sondern ihre seltsamen Träume verfolgen.
Es gibt eine Passage, wo die Amerikaner auf schon länger inhaftierte Briten stoßen – diese (wie auch die Deutschen) schon bald zu dem Urteil kommen, diese „Amis“ seien unzivilisierte, unkollegiale und dummbatzige Rabauken.

Der kampflustige Gefreite Roland Weary tagträumt beim Marschieren von zukünftiger, dumpfer Prahlerei über seine Kriegserlebnisse. Billy ist längst schwächlich kollabiert und beginnt, sich aus der Zeit zu lösen.

 

Natürlich ist SLAUGHTERHOUSE-FIVE ein Werk der Meta-Fiktion. Die Figur Billy Pilgrim begegnet bei seinen Verlegungen in Dresden dem Autor Kurt Vonnegut, der Kriegsgefangener der Deutschen und in Dresden zugegen war!
In zwei separaten Szenen diskutieren Pilgrim und Vonnegut vor einem weißen Hintergrund (Hinweis auf die Anderweltlichkeit dieser Szene) Kriegserlebnisse bzw. die Lehren der Tralfamadorianer: „Wir alle leben ewig.“ – „Genau. Egal wie tot wir wirken mögen, in einer anderen Zeit leben wir weiter.“

Die Figur Billy Pilgrim versucht ihren Autor Kurt Vonnegut von der kosmischen Philosophie zu überzeugen (linke Seite). Vonnegut schließt beim Flug über das Nachkriegs-Dresden mit einer Reflexion darüber (rechte Seite), dass die Weltbevölkerung (trotz aller Gräuel) im Jahr 2000 auf die Zahl von 7 Milliarden Menschen anwachsen könnte (betreffende Information nicht mehr im Bild).

 

Des Weiteren trägt Vonnegut eine Art „ironische Schuld“ vor sich her, denn im Vorwort des Buches gesteht er: „Ich bin Nutznießer der Dresdner Kriegsgräuel […] Der Roman begründete meinen Ruhm […] Ich habe zwei bis drei Dollar an jedem Toten verdient […] Schriftstellerei ist ein feines Geschäft“.

Ist SLAUGHTERHOUSE-FIVE ein Werk des Zen?

 

Nicht wirklich, doch man treibt durch diesen Comic und macht eine völlig neue Leseerfahrung. Eingebettet in die Rahmenhandlung der Kriegsgefangenschaft springen wir mit Billy durch die Zeit, vor und zurück, von Deutschland in die USA und auf den Planeten Tralfamodor (und zurück), begegnen unzähligen Figuren (wie wir ja auch im Leben unzähligen Menschen begegnen), bedeutsamen wie nebensächlichen – und wundern uns, was das alles soll.

Vonnegut verrät uns nichts … oder verrät er uns alles?
Die Philosophie der Tralfamadorianer (s. oben) könnte das Geheimnis des Universums sein! Aber glauben wir das?

Oder was ist mit der psychedelischen Doppelseite? Diese Bilder aus dem Buch der Tralfamadorianer, diese Fragmente, erklären alles und vermitteln ein Gefühl der Schönheit und der Vollkommenheit – wenn man alle zugleich wahrnimmt!

Das genau ist der Punkt: Unser Leben besteht aus Fragmenten, aus Momenten. Wären wir imstande, alles auf einmal zu erfassen, hätten wir den kosmischen Überblick.
Ich find’s genial, was uns SLAUGHTERHOUSE-FIVE in Comicform alles unterjubelt und damit erkennen lässt. Wenn man denn mag und sich drauf einlässt.

Jetzt sag ich zum Schluss, dass Sie sich mein Instagram-Video anschauen sollten. Dieses wundersame Buch ist in einem Artikel kaum vermittelbar. Eventuell erhalten Sie einen besseren Eindruck, wenn Sie mit mir hineinschauen: