JANUARY JONES: Höhenflug der „Ligne claire“

Seit TIM UND STRUPPI ist Hergés Zeichenstil, die sogenannte „Ligne claire“, ein Begriff in der Comicwelt – und für viele ein Faszinosum, das zahlreiche Schüler und Kopisten gefunden hat.

Mir persönlich war immer der dynamischere und wildere Stil der „École Marcinelle“ (mit dem Aushängeschild Franquin) lieber, mutmaße jedoch, dass die „Ligne clairenicht ohne Grund ein zeitloses Phänomen ist: Der gerade Strich, die klare Bildaufteilung und der plakative Look sind deswegen so „augenfällig“ (eingängig, prägnant), weil die „Ligne claire“ nur einen Schritt weg von der Infografik ist.

Festivalposter mit January-Jones-Motiv.

Diese Comics sind leicht zu dechiffrieren, sie übertreiben und überhöhen nicht, sie erlauben sich keine Experimente, sondern bleiben im Rahmen des Konventionellen.
(Kein Vorwurf, keine Herabsetzung; ich mag verrücktere Sachen, aber eine gekonnte „Ligne claire“ ist immer ein Hingucker.)

Der moderne Meister dieses Stils ist der Niederländer Eric Heuvel, der nicht nur JANUARY JONES zeichnete, sondern in diesem Erscheinungsbild weitere Abenteuer- und Automobil-Comics, selbst Holocaust-Comics gestaltete (was auf den ersten Blick befremdlich scheint, aber ein großer Erfolg war – Stichwort „Die Entdeckung“ / „Die Suche“ / „Die Rückkehr“).
Wer mag, studiere den Eintrag zu Heuvel in Lambieks Comiclopedia.

Heuvel darf als veritabler Erbe der ersten Generation der „Ligne claire“-Zeichner wie Hergé, Martin und Jacobs betrachtet werden. Ich  habe schon einige Adepten gesehen, aber so authentisch und „rund“ wie Eric Heuvel zeichnete in meinen Augen niemand sonst.

JANUARY JONES atmet echtes TIM-UND-STRUPPI-Feeling, was nicht nur an den Illustrationen, sondern auch an den Geschichten und ihren Settings liegt. Miss Jones ist eine junge, mutige, amerikanische Pilotin oder Flugabenteuerin, die in ihrer „Comet“-Propellermaschine um die Welt saust und dabei in Abenteuer verwickelt wird.

Im ersten Band („Todesfahrt nach Monte Carlo“) bestreitet sie eine Automobil-Rallye durch Osteuropa, im folgenden Doppelalbum „Der Schädel von Sultan Mkwawa“ und „Der Schatz von König Salomon“ verschlägt es sie auf einer Schatzsuche von Paris über Kairo nach Tansania.

Auf die Plätze, fertig … Jones!

 

Auch wenn ich das Eröffnungsalbum „Todesfahrt nach Monte Carlo“ ein wenig plump und textlastig fand, überraschten mich die nächsten beiden mit flüssigerem und originellerem Plot, dazu faszinieren mich tatsächlich die historisch akkuraten Einschübe.

Autor Martin Lodewijk beutet viel interessante Historie aus, um seine January Jones vor dieser Folie agieren zu lassen. Die Serie spielt nämlich in der Zeit unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, also Mitte bis Ende der 1930er-Jahre.

January Jones demonstriert in den engen Räumlichkeiten einer Garage ihre fahrerischen Fähigkeiten.

 

Agent X-1 vom amerikanischen Geheimdienst setzt January unter Druck, die Rallye Monte Carlo als Fahrerin zu bestreiten. Sie soll auf der Tour einem Agenten in Estland Spionagematerial abnehmen. Der aber bricht tot in ihren Armen zusammen – und January gerät in die Zange gleich zweier deutscher Geheimdienste: die konkurrierenden Abteilungen der Abwehr und der SS.

Es beginnt eine Hatz durch das verschneite Osteuropa; mit von der Partie sind auch noch ein versnobter Lord, der sich im Rolls Royce kutschieren lässt sowie Graf Ciancali, der alle anderen Teilnehmer sabotiert (angefeuert von einem Mussolini-artigen Beifahrer).
Ein bisschen Pate stehen hier bekannte Wettrennen-Filme wie „Das große Rennen rund um die Welt“ oder „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“.

Auch der Schlaf am Steuer erweist sich als Gefahr auf der Rallye: Ein Heuschober kommt als Bremsklotz gerade recht.

 

Ein bisschen unzufrieden bin ich mit der Ausgestaltung der Hauptfigur. Diese Miss Jones ist waghalsig mutig und stets guter Laune – aber weshalb? Ich erfahre nichts über ihren Hintergrund, keine Backstory, keine Rückblenden, nichts über ihre Familie oder Ausbildung. Sie ist einfach da: blond, fit, gerechtigkeitsliebend. Gut, sie ist Fliegerin und fliegt.

Aber über Tim erfahren wir auch nie etwas, oder? Der ist angeblich Reporter, aber hat man ihn je in der Redaktion sitzen sehen? Kann mich nicht erinnern.
Der Charme bei TIM UND STRUPPI erschließt sich über die skurrilen Nebenfiguren: Käpt’n Haddock, Professor Bienlein, Schulze und Schultze, Bianca Castafiore.
Tim ist der „straight man“, die anderen sind die „trouble shooter“ und Komiker, die mit konstruierter Fallhöhe den Alben Leben und Seele einhauchen.

Ähnlich verhält es sich mit January, sie hat den jugendlichen Sidekick Rick, einen Kfz-Lehrling, den sie in eine Garage in den Niederlanden aufliest. Rick begleitet sie fortan (auch keine Familie, keine Freunde?) und erweist sich mit seinen geschätzten 15 Jahren als Mechaniker-Genie, der nicht nur alles über Autos weiß, sondern auch jedwede Flugmaschine reparieren kann.

Rick kann einfach alles: Hier verblüfft er sogar den amerikanischen Geheimdienst in Gestalt von Agent X-1.

 

Hui, da geht die Logik im Comic wieder mal zum Teufel. Aber hat sich jemals einer beschwert, dass ein Robin beispielsweise – statt in die Schule zu gehen – nachts mit Batman von Dächern springt?!
(Oh, doch, hat jemand, aber das führt zu weit und berührt Themen der sexuellen Selbstbestimmung, die wir jetzt mal beiseitelassen, heikle Sache das. Ahem.)

Ich habe keine Ahnung, ob in den folgenden sechs Alben von JANUARY JONES noch wiederkehrendes Personal auftritt (nicht gelesen). Bei der Lektüre der ersten drei hatte ich immerhin schon das Gefühl, TIM-Figuren am Rande auftauchen zu sehen (sei es nur ein Straßenhändler oder Taxifahrer im stummen Auftritt im Hintergrund).
Kuriose Hommage an Hergé ist auch das Erscheinen des Schmugglers Henry de Monfried im Roten Meer, der im TIM-Album „Die Zigarren des Pharaos“ mitwirken soll (weiß ich gar nicht mehr). Hier jedenfalls ist er als Waffenhändler tätig und entledigt sich einer Kiste überflüssiger Comicalben – natürlich ausgerechnet „Die Zigarren des Pharaos“!

Damit sind wir im oben erwähnten Doppelalbum um die Jagd nach den sagenhaften Diamantenminen von König Salomon. Die beginnt jedoch zunächst mit vier Seiten Historie um den afrikanischen Widerstandskämpfer gegen die deutsche Kolonialmacht, Sultan Mkwawa (gab es wirklich!), in dessen Totenkopf die Schatzkarte zum Reiche König Salomons geritzt wurde.

Der wertvolle Schädel geht im Ersten Weltkrieg verloren, taucht dann jedoch wieder auf. Diverse Fraktionen konkurrieren im Folgenden um den Besitz desselben: afrikanische Freiheitskämpfer, Graf von Stennis und seine Banditen, ein Nazi-Kommando und auch die echte Enkelin des Sultans.
Mittendrin natürlich Rick und January, die sich zu Wasser, zu Lande und in der Luft in die Geschichte einmischen und größeren Schaden zu verhindern suchen.

Sogar unter der Erde geht das Abenteuer weiter: January hat den Schädel dort deponiert, wo er nicht auffällt – in den Katakomben von Paris!

 

Im dritten Album schließlich („Der Schatz von König Salomon“) wird JANUARY JONES exotisch: Nach einem Intermezzo um rivalisierende Scheichs auf der arabischen Halbinsel geht es mit Safari-Feeling ins Herz Afrikas und weiter in den geheimnisvollen Talkessel, der sich „Nabel Salomons“ nennt.

Die gespenstischen Paviane sorgen für animalische Bedrohung, sobald unsere Heldin in Afrika gelandet ist.

 

Das rasante und vor allem mystisch-fantastische Finale sprengt (dank der Mitwirkung der Königin von Saba, intelligenten Riesenaffen und einer Quelle der Unsterblichkeit) zwar eigentlich das Konzept dieser bis dahin realistischen Abenteuerserie, aber es sei Lodewijk und Heuvel verziehen – denn erstens langweilen sie uns nicht und zweitens vergessen sie über allem nicht den Humor:

Bei der Flucht aus dem Talkessel wuseln zwar alle Beteiligten durcheinander, aber wir können der Handlung klar folgen und bekommen eine Menge geboten.

 

Erst 1987 beginnen Lodewijk / Heuvel ihre Serie und obwohl sowohl das Sujet (Abenteuer) wie auch die Zeit (Zweiter Weltkrieg) dieselbe sind wie bei „Indiana Jones“ (sic!), ist mir nie der direkte Vergleich gekommen. Ich rede zwar gerade darüber, aber ich würde JANUARY JONES nicht als „weiblichen Indiana Jones“ bezeichnen.
Liegt vielleicht am distanzierten Flair der „Ligne claire“; wären die Zeichnungen realistisch gestaltet, drängte sich ein Vergleich womöglich auf …
Schön, dass es so eigenständig wirkt!

Durch das Jahr mit January

 

Drei Dinge lohnen die Lektüre von JANUARY JONES:

1) Eine atemberaubende „Ligne claire“, die echte Schauwerte bietet. Ich wähle mal zur Demonstration den Flugschirm-Stunt am Eiffelturm. Dezent durchbricht Heuvel hier auch das sture Panel-Raster, um der Aktion (auf der zweiten Seite) mehr Raum zu geben.

Der Fluganzug ist übrigens historisch verbürgt, wie uns das kurze Nachwort versichert. Damit leiten wir perfekt über zu Punkt 2.

2) Die historische Akkuratesse, die einen Mehrwert kreiert. In Ägypten landet January auf einem Sklavenmarkt. Sklavenmarkt im 20. Jahrhundert? Das ist doch Unfug!
Ist es das? Heuvel unterbricht seine Erzählung sogar mit dem Meta-Kommentar einer extra dafür auftretenden Figur eines britischen Offiziers, der Fakten einstreut.

Und January Jones macht die Erklärpassage wett durch deftigen Aktions-Slapstick. So wird’s gemacht!

3) Der freche Humor im Zusammenspiel mit der Historie. Autor Lodewijk und Zeichner Heuvel machen sich einen Spaß draus, ihr Zeitkolorit nach Strich und Faden zu melken. So tauchen auf: eine Teenie-Version von Josephine Baker („Josephine Baby“), ein wurstiger Pariser Apachen-Tänzer („Podomme“), sich bekriegende Sultans, die Nazi-Pilotin „Dritta Reich“ und überhaupt – man lese und staune – die Führungsriege der Nationalsozialisten.

 

Der deutsche Verlag Kult Comics hat JANUARY JONES in drei Integral-Bänden aufgelegt.

Ebenfalls dort hat man die „Zweiter-Weltkrieg-Trilogie“ als „Kriegsgeschichten“ in einem Band veröffentlicht!

Wer noch Geblätter sehen will, rufe mein Instagram-Video zu JANUARY JONES auf: