Gefangen im Comic: TEXAS KID, MEIN BRUDER

Hier haben wir es mit einer Vater-Sohn-Beziehungsgeschichte zu tun, die mal ganz anders daherkommt: Denn es fliegen die Fäuste und es hagelt „blaue Bohnen“.

Der Westernheld „Texas Kid“ nämlich entsteigt den Seiten seiner Comics und rivalisiert mit dem leiblichen Sohn um des Vaters Gunst!

Dem Zeichner Igor Kordej ist mit Unterstützung des Autoren Darko Macan (beide bekannt durch ihre Westernserie MARSHAL BASS) eine eigenwillige Mixtur aus Autobiografie und Metafiktion gelungen, die mich in ihren Bann schlägt.

Aber fangen wir vorne an:
Radovan Brandt ist kroatischer Comiczeichner, doch er betrachtet sich als verflucht, weil er im Schatten seines Vaters steht.

Dieser Vater, Tomislav Brandt, ist die Übergestalt des kroatischen Comics, der Schöpfer der Westernserie „Texas Kid“. Die produziert er bereits seit Jahrzehnten, denn mit Western kann man nichts falsch machen.

Western gehen immer, wir dürfen hierbei gerne die italienische Serie TEX assoziieren, US-amerikanische Westernfolklore im Allgemeinen und natürlich auch frankobelgische Klassiker wie LEUTNANT BLUEBERRY, COMANCHE und alle Nachfolger.

„Texas Kid“ ist die Chiffre für einen Mainstream-Erfolgscomic und Tomislav ist der gefeierte Autorenzeichner, der auf einer eigenen „Texas Kid Con“ Hof halten darf.

Oben sahen Sie eine weitere Chiffre: den Star als alten weißen Mann, der auch vor Übergriffigkeiten nicht zurückscheut.

Kordej präsentiert uns Archetypen und Klischee-Häppchen, auch wie er Tomislavs Lebenslauf vor uns ausbreitet. Der stille, aber entschlossene Junge, der bei einem längeren Krankenhausaufenthalt seine Liebe für Comics entdeckt.
Der kämpferische Jugendliche, der in den Zweiten Weltkrieg zieht. Der rücksichtslose Soldat mit Überlebensinstinkt, der sich im Frieden um seine verwitwete Schwester und deren Kinder kümmert. Der Comiczeichner, der mit seinem Revolverheld für Gerechtigkeit sorgt, aber bloß althergebrachten Eskapismus bedient.

Auf dem erwähnten Comicfestival geschieht die Sensation: Ein Kerl in den Klamotten von Texas Kid tritt auf und gestaltet das Rahmenprogramm.

Er posiert mit den Fans für Fotos und Autogramme, er führt Reiterkunststücke auf seinem Pferd Lucky vor, er kann sogar mit seinen beiden silbernen Pistolen schießen wie der Teufel.

Radovan beobachtet das Geschehen kritisch, denn sein Lebenstrauma flammt frisch auf. Der kalte, abweisende Vater, der ihn immer nur gemaßregelt und kritisiert hat, zeigt Zuneigung gegenüber einem Fremden.

Dieser Texas Kid ist zu perfekt, um wahr zu sein.

Duell der Söhne

So beginnt das Leben in einer skurrilen Dreier-WG: Vater, Sohn und der Heilige Kid.

Der Pistolero zieht ein und benimmt sich wie die offene Hose. Er terrorisiert Radovans Mutter, indem er über ihre Kochkünste wütet.
In der Stadt hingegen lässt er sich als Held feiern, weil er generische Heldentaten vollbringt, wie etwa Kinder aus einem brennenden Haus zu retten oder Bankräuber zu fangen.

Daheim aber ist er ein Kotzbrocken, der Radovan für dessen „moderne Weicheier-Comics“ provoziert.

Ich finde es beachtlich, dass Kordej an dieser Stelle eine Interpretation des Genres Western liefert, geäußert durch einen Vertreter ebendieses Genres.

Damit stellt er uns die Frage, wie weit wir diese Mechanismen durchschauen oder gar einfordern. TEXAS KID, MEIN BRUDER ist eine Reflexion über den Machismo im Comic. Der verschränkt ist mit dem patriarchalen Alltag und sich in die Kultur zurückspiegelt.

Bald wird weiterhin klar, dass Dinge geschehen, die nicht normal sind. Ist der Texas Kid aus Fleisch und Blut oder eine fleischgewordene Fantasie?!

Sohn Radovan ist jetzt herausgefordert zum Duell der Kunstentwürfe. Die Comics der alten Schule erlauben den Status Quo, das sorglose Reiten in den Sonnenuntergang.
Was kann der junge Kreative dem entgegensetzen?

Nach einer Sam-Peckinpah-Retrospektive (!) im Kino bewaffnet sich Radovan und möchte dem Vater so beweisen, dass auch er ein ganzer Kerl sein kann – und tappt damit in die Falle des fatalen Männlichkeitskults, die unsere Kultur seit Jahrhunderten aufgestellt hat.

Ich darf jetzt nichts mehr von der Handlung verraten, kann mir aber einen Hinweis nicht verkneifen: Es kommt zu einem Schusswechsel á la Sam Peckinpah, in absurder Zeitlupe auf 12 Seiten aufgezogen.

Das kann man im Grunde nicht ernst nehmen, wie ich auch andere Passagen des Werks als Marker betrachte, die uns sagen wollen: Achtung, du befindest dich in einem Comic über Comics und sämtliche Klischees, die damit zusammenhängen.

Ich verstehe TEXAS KID, MEIN BRUDER als ziemlich abgefahrene, aber hochintelligente Analyse einer Popkultur namens „Neunte Kunst“, exemplifiziert an ihrer männlichen Dominanz. 

So, ich mal wieder in voller Fahrt als Analyse-Onkel. Sie müssen diese Meta-Aspekte nicht teilen, vielleicht haben Sie einfach Spaß an dem wilden Westernquatsch und dem Texas Kid als „fish out of water“, höhöhö.

Auch Comicsammler kriegen am Rande ihr Fett weg, wie diese Eröffnungsszene auf der „Texas Kid Con“ zeigt …

Zum Schluss eine editorische Anmerkung:

Eigenartig wie der Comic sind die Wege seiner Veröffentlichung. Die Übersetzung wurde aus dem Englischen getätigt, jedoch finde ich online keine englischsprachige Ausgabe.
Ich entdecke auch keine frankophone Ausgabe, obwohl Zeichner Igor Kordey für den französischen Markt arbeitet.
Es existieren dafür (neben der deutschen) eine spanische sowie eine niederländische Ausgabe. Das Kuriose an letzterer ist, dass die Holländer das Werk überformatig und mit der Zusatzfarbe Rot gedruckt haben. Ich habe es in Händen gehalten, ein monströses Buch, kostet dafür aber auch 40 statt 26 Euro.

Die Spanier und die tapferen Menschen beim avant-Verlag scheinen eine schwarzweiße „Sparausgabe“ im Normalformat veröffentlich zu haben.
Das kann ich ihnen nicht verübeln, denn wir wissen, in welchen Stückzahlen solche Comics verkauft werden.

Schade ist es trotzdem, denn in der Luxusfassung entfaltet und betont TEXAS KID, MEIN BRUDER seine verkünstelte Einzigartigkeit ungleich stärker.

Ich blättere brüderlich hinein in meine deutsche Ausgabe: