Die Liebe ist ein seltsames Spiel: DJINN

Diesen Comic habe ich mir kommen lassen, weil ich mal wieder eine Zeichnerin in den Vordergrund stellen wollte: Ana Miralles heißt sie und hat eine Menge geleistet.
Wovon wir in Deutschland nicht viel gesehen haben (ihren ersten Erfolg, EVA MEDUSA, in den Neunzigern sowie ein Album bei Ehapa vor 15 Jahren).

DJINN ist ihre Signaturarbeit, 13 Bände hat Miralles von 2001 bis 2016 gezeichnet, die auch zeitnah bei schreiber&leser erschienen sind.

Was Sie hier sehen, ist der Beginn einer neuen Integralausgabe – und schönste Gelegenheit, in ihre Bildwelten einzusteigen bzw. diese überhaupt kennenzulernen.

Miralles ist nicht unverwechselbar und auch nicht atemberaubend, aber sie illustriert einfach exzellent, verbreitet Eleganz auf den Seiten und bringt die Geschichte kompetent voran, ohne dabei ihre Figuren zu desavouieren.

Stilistisch neigt sie dem „romantischen Realismus“ der europäischen Historien- und Abenteuercomics zu, ihre klare Linie und ihr Einsatz schwelgerischer Farben erinnern an Annie Goetzinger und an die Landsleute Ruben Pellejero oder Miguelanxo Prado.

Das ist das Jahr 1912. Wir erlebten den Auftritt von Jade, der Favoritin des Sultans.

Miralles legt die Stimmung in Rot- und Blautönen an, wie sie überhaupt ihrer Figur Jade die Farbe Rot zuordnet.

Jade ist eine Djinn (weibliche Form), was in der arabischen Mythologie eine Dämonin bezeichnet, die Männer verführt und ins Verderben stürzt.

Ich darf verraten, dass Jade kein übernatürliches Wesen, sondern eine zielstrebige und brutale Frau ist. Dieser französische Comic meint mit Djinn vielmehr die orientalische Ausprägung einer „Femme fatale“.

Aber DJINN ist ein cooler Name für eine Comicreihe und transportiert diesen geheimnisvollen Hauch von schwülen Märchen und fiebriger Exotik.

Und das ist das Jahr 2002. Hier sahen wir Kim Nelson, die Enkelin von Jade.

Sie begibt sich im modernen Istanbul auf die Suche nach ihrer Großmutter, jener legendären Djinn, die damals in Diensten des Sultans stand und den Auftrag bekam, den englischen Gesandten Lord Nelson um den Finger zu wickeln.

Der soll erkunden, ob der Sultan auf die englische Seite zu ziehen ist und sich im kommenden Krieg gegen den Verbündeten Deutschland entscheiden wird. Auch wenn DJINN auf historisch korrekter Folie spielt, geht es vielmehr um den Schatz des Sultans, der an einem geheimen Ort verborgen ist.

Den sucht Jade, die zugleich ihre Mission gegen Nelson erfüllt, indem sie dessen Gattin erst verführt, dann entführt.

In der Gegenwart macht Kim Nelson die Bekanntschaft von Ebu Sarki, Nachkomme des Sultan-Leibwächters Jussuf. In dessen Wüstenfestung herrschen noch feudale Verhältnisse und die Regeln des Harems.

Um dort akzeptiert zu werden (und in die Fußstapfen der Djinn zu treten), muss sie die „Prozedur der 30 Glocken“ bestehen.

Jede Glocke steht für eine Liebesnacht mit je einem Mann oder einer Frau. Auf solche Weise soll Kim Erfahrung sammeln, aber auch gefügig gemacht werden.
Eine Djinn jedoch absolviert diese Prüfung mit Stolz und Feuer und gewinnt dabei Macht über die Männer.

Kritischer Punkt in der Lektüre: Dieser Comic macht Frauen zu Objekten, ja, aber er stellt es nicht aus, er belässt vieles bei Andeutungen, er gerät nicht ins Fahrwasser der „Sexploitation“.

Prominent ins Bild setzt Künstlerin Miralles nämlich lieber die Momente der exotischen Romantik: Kims Helfer Malek rettet sie vor den Wüstlingen in der Wüste – mit seinem Auftritt als Scheich à la Rodolfo Valentino:

Kommst du heut‘ nicht, kamst du gestern

Sie sehen: DJINN bewegt sich abwechselnd und ohne Ansage in zwei Zeitlinien, was kritisch sein könnte. Doch ich war nie im Zweifel, wann ich mich befinde.
Denn die Zeichnerin weiß um dieses Problem und gestaltet die Gegenwart ungleich heller und lässt die Kleidung der Figuren moderne Akzente setzen.

Höchst kunstvoll springen wir von Szene zu Szene, blenden von der Vergangenheit in die Gegenwart und zurück.

Gern greift der Text dabei Phrasen und Formulierungen auf, die wortgleich durch die Zeit hallen. Hübsches Detail: Jeder Band beginnt mit übergeordneten Mantren wie „Ich suche eine Frau“ oder „Ich suche einen Schatz“.

Klingt banal, wäre in anderen Händen eventuell zum Fiasko geworden. Betrachten Sie diese „gespiegelte Szene“ aus Band 3: Jade ist dem Sultan entkommen; der lässt seinen Handlanger Samuel durch seinen Leibwächter Jussuf bedrohen.

Dann kippen wir in die Gegenwart und schneiden um auf Ebu Sarki, dem Kim unter die Augen tritt. Seine Bedrohlichkeit steht der seines Vorfahren Jussuf um nichts nach, doch Kim ist zur Djinn gereift, die ihm herrschaftlich wie der Sultan begegnet.

Die Schule der Lust im Harem des Prinzen

In dieser Überschrift verknüpfe ich zwei Titel der „Emmanuelle“-Filmreihe der 1970er-Jahre, die wir durchaus mit diesem Comic vergleichen dürfen.

„Emmanuelle“ wie auch DJINN kaprizieren sich auf die erotischen Abenteuer experimentierfreudiger Frauen in exotischem Ambiente.
Ersetzen Sie „experimentierfreudig“ durch „willig“ oder „hemmungslos“, wenn Sie moralisch urteilen möchten.

Diese Filme und diese Comics gehorchen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und präsentieren uns wertfrei ausgelebte Sexualität. Ich wäre vorsichtig damit, hier Kategorien wie „falsch“ und „richtig“ aufzumachen.

Schauen wir auf die Handlungszusammenfassung des ersten „Emmanuelle“-Streifens:

„Emmanuelle reist zu ihrem Ehemann Jean nach Thailand, der dort als Diplomat tätig ist. Der aufkommenden Langeweile und ihrer sexuellen Unerfahrenheit versucht sie durch erotische Abenteuer mit Freundinnen zu entkommen.
Unter anderem lernt sie die Archäologin Bee kennen und verbringt mit ihr einige Tage und Nächte. Sie verliebt sich innerhalb kurzer Zeit in Bee, jedoch wird die
Liebe nicht erwidert und Emmanuelle kehrt enttäuscht zurück zu ihrem Ehemann.
Dieser bringt sie daraufhin mit dem Lebemann Mario zusammen, der sie in das Spiel der
Erotik und die sexuelle Enthemmung einweisen soll. Durch philosophische Belehrung über das Wesen der sexuellen Befreiung und verschiedene, teilweise bizarre sexuelle Erfahrungen (Emmanuelle wird in einer Opiumhöhle vergewaltigt und bei einem Thai-Box-Kampf als Preis für den Sieger ausgelobt) durchbricht Emmanuelle ihre Grenzen, am Ende wird sie als gereifte, erwachsene Frau dargestellt.“

Das können wir gerne „Sleaze“ nennen, Schlüpfrigkeit und Schmierigkeit.
Da geht uns heute volle Glocke Chauvinismus-Alarm und „Männerfantasie, ick hör dir japsen“. Natürlich. Franzosen!

In der Zusammenfassung aber ist eine Menge DJINN vorgezeichnet.
Die Nelsons als Spielbälle fremder Kultur und ungekannter Leidenschaften; Jade und Kim als Frauen, die Sexualität in allen Spielarten beherrschen oder erdulden; Ebu Sarki und der Geschäftsmann Amin als Dunkelmänner und Machthaber.

DJINN entspinnt sich im Fortgang mehr und mehr zum Abenteuercomic, in dem zunächst Jade in der Vergangenheit und dann Kim in der Gegenwart auf den Schatz des Sultans stoßen.
Was dann geschieht, werde ich nicht verraten. Aber die Schauwerte sind nicht von Pappe!

So nimmt sich Miralles Raum für die Inszenierung der Wüste und seiner Sandstürme.

Lass doch mal die Profis ran

Szenarist der Reihe ist niemand anderes als Jean Dufaux.

Dufaux ist ein versierter Autor mit ca. 70 Comics auf dem Kerbholz, mir ist er zweimal über den Weg gelaufen, mit zwei Werken aus ganz anderen Genres: dem Fantasystoff RITTER DES VERLORENEN LANDES und dem Western REGENWOLF.

13 Bände von DJINN sind wie erwähnt im Lauf von 15 Jahren erschienen. Der Verlag schreiber&leser veröffentlicht hiermit den vergriffenen Sammelband des osmanischen Zyklus (Album 1-4)in einer „Neuausgabe im Format A4“, wie es heißt.
Ich gehe davon aus, dass die zwei weiteren Sammelbände mit dem afrikanischen und dem indischen Zyklus folgen werden.

Ein bisschen Angst habe ich, dass in Afrika und Indien Klischee-Klippen lauern, an denen DJINN zerschellen könnte.
Andererseits haben Dufaux und Miralles die osmanischen Eskapaden mit Bravour gemeistert, weil sie die Handlung an griffige Figuren gebunden haben, die als globale Archetypen funktionieren.

Die Mächtigen, die Gierigen, die Liebenden finden wir überall.

Fazit: Ich find’s fulminant.

Ein bisschen gegen meinen Willen. Miralles ist klasse und ihr gebührt Extralob dafür, den Texter Dufaux für frauenfeindliche Passagen in die Schranken gewiesen zu haben, wie uns das Bonusmaterial im Anhang andeutet.
Dazu wüsste ich gerne mehr, aber auch sonst ist DJINN nicht nur ein Hingucker, sondern ein intelligent verflochtener und fesch präsentierter Stoff.

„Emmanuelle“ lässt grüßen, sicherlich, doch garantiert ist dieser Comic besser gealtert als der Film. Dank Ana Miralles und ihrer grafischen Distanz wie Eleganz sowie ihrem Instinkt, diese Geschichte mit weiblicher Würde aufzuzeichnen.

Blick ins Werk wie immer in einem kurzen Instagram-Reel: