Jetzt tu ich’s wieder: Einen CORTO besprechen.
Obwohl ich nicht viel halte vom klassischen Pratt-CORTO, habe ich mich vor knapp drei Jahren bereits der Neuschreibung von Martin Quenehen und Bastien Vivès gewidmet.
Heute wende ich mich der Fortschreibung des Klassikers durch das Team Juan Diaz Canales und Rubén Pellejero zu: CORTO MALTESE – DIE LEBENSLINIE will die ursprüngliche Serie mit ihren Themen und Figuren im Sinne Pratts weiterführen (veröffentlicht bei schreiber&leser).
Dann kann man als gelungen betrachten, auch wenn ich ein paar Einwände habe. Aber worum geht es zunächst?
Corto Maltese (comicbekannter und altersloser Seefahrer, Abenteurer, Glücksritter und Globetrotter) verschlägt es nach Mexiko, wo er im Auftrag von Golden Rosemouth kostbare Jadestatuetten außer Landes schmuggeln soll.
Unter dem Tarnnamen Everett Hale gewinnt Corto das Vertrauen des Ausgräbers Thompson, der den Jadeschmuck der Maya an sich gerissen hat.
Vor Ort lernt er außerdem den US-amerikanischen Botschafter Dwight Morrow und dessen Tochter Anne kennen, die mit dem weltberühmten Flieger Charles Lindbergh verlobt ist.
Der übrigens in einem Cameo-Aufritt prompt angeflogen kommt. Die Amerikaner und die mexikanische Regierung führen einen Kleinkrieg gegen aufständische katholische Bauern, die nach den Wirren der Revolution ihren Glauben bedroht sehen.
Die bürgerkriegsartigen Zuständ sind übrigens historisch belegt, wie uns auch ein Vorwort verrät. Ebenso real sind die Morrows, Thompson und die auf der Gegenseite agierenden revoltierenden Priester, Gouverneur Torres und der Bauerngeneral Gorostieta.
Denn in diesen Konflikt wird Corto hineingezogen, als er für die christlichen Rebellen einige Kisten Waffen und Munition ins Kampfgebiet zu General Gorostieta transportieren soll.
Folgende Sequenz symbolisiert sehr schön den Hass der revolutionären mexikanischen Regierung auf althergebrachte Religion. Ein Erschießungskommando exekutiert den Sohn Gottes:
Damit Corto unbehelligt durchs Land reisen kann, kriecht er bei einer Fußballmannschaft unter, die per Bus von Ort zu Ort reist.
Nach einem Zusammentreffen mit dem blutrünstigen Ex-Priester Vega bekommt er von diesem Geleitschutz und dringt in die Gegend um Candalaria vor. Dort findet er allerdings nicht General Gorostieta vor, sondern seine Nemesis und alten Widersacher Rasputin.
Was der da zu suchen hat, bleibt schleierhaft. Ich habe den Verdacht, diese Inszenierung dient allein dem Wiedererkennungseffekt – kein Corto ohne den obligatorischen Rasputin.
Auf der weiteren Suche nach Gorostieta läuft Corto einer nächsten Bekannten in die Arme: Die irische Widerstandskämpferin Moira Banshee (aus dem Abenteuer DIE KELTEN) hat ihre Feuerkraft in den Dienst der katholischen Rebellen gestellt.
Banshee tut für den Verlauf der Handlung nichts zur Sache. Auch sie im Grunde nur reine Referenz und Gelegenheit zu romantischen Anklängen. Denn beide verbringen eine Nacht miteinander, nach der Corto im Fieberwahn versinkt (ein Skorpion hat ihn gestochen).
Als er erwacht, haben sich die Verhältnisse dramatisch verändert – und Corto kann das Land verlassen. Mehr darf ich nicht zur Geschichte verraten, zeige im Bild aber noch die endlich stattfindende Begegnung mit General Gorostieta, die diese historische Gestalt gut einfängt und interessant präsentiert:
Ein Zittern auf ganzer (Lebens-)Linie
Verraten darf ich, dass ich mich mit der Plotführung unbehaglich fühle.
Figuren tauchen auf und verschwinden wieder, ohne die Geschichte vorangebracht zu haben. Ich erinnere an Charles Lindbergh und Anne Morrow, die nach ihrem Gastauftritt verschwunden bleiben.
Ich weiß nicht, ob der echte Lindbergh jemals in Mexiko war, ich weiß ehrlich auch nicht, ob CORTO-Erfinder Hugo Pratt solche VIP-Auftritte in seinen Geschichten erlaubt hat.
Bei Autor Canales kommt es mir vor, als wolle er glänzen mit historischer Belesenheit.
Lindbergh in Mexiko auftauchen zu lassen, ist völlig unnötig, es behindert meiner Meinung sogar den Fluss der Handlung.
Denn als ein Doppeldecker Cortos Karawane angreift und Bomben auf ein Dorf wirft, frage ich mich unwillkürlich, wer denn da am Steuerknüppel sitzt – doch wohl nicht Charles Lindbergh oder seine Verlobte, die Ko-Pilotin Anne Morrow?
Wird nicht aufgeklärt. Damit schafft DIE LEBENSLINIE nur Verwirrung. Man hätte die Lindbergh-Morrow-Bagage nicht für diesen Comic gebraucht.
Des Weiteren finde ich, Canales und Pellejero haken „Corto-Kästchen“ ab.
Sie zitieren Pratt und bedienen sein Personal, eröffnen jedoch keine neue Dimension der Corto-Folklore. Gut, das wäre wohl auch zu viel verlangt.
Es gibt einige schöne, wirklich schöne Momente in diesem Album. Ich wähle exemplarisch mal folgende Szene:
Dann aber macht das Kreativduo mit dem großen Gegenspieler Rasputin: nichts weiter.
Die beiden Charaktere quatschen noch ein Weilchen miteinander, dann bricht man zu neuen Abenteuern auf.
Ist das nun schlicht läppisch oder verleiht das dem Antagonisten eine neue Facette?!
Originell hingegen ist das Auftreten eines Tintin/TIM-artigen Reporters namens Yann Reveur, der den inkognito agierenden Corto erkennt und sich als „Fanboy“ erweist.
Erschüttert durch die Gewalttaten der Rebellen und der Regierung wandelt sich Reveur noch zum echten Kriegsberichterstatter. Das ist ein schöner Dreh, auch wenn er nicht völlig ausbuchstabiert wird und die Figur in ein offenes Ende verschwindet.
Meister der Verwandlung
Positiv sei betont, dass Zeichner Rubén Pellejero wieder eine grandiose Arbeit macht: Sein bewusst sparsam eingesetzter Strich evoziert das originale Artwork von Pratt. Dabei erweitert er dessen Manierismen noch um eine behutsam lebendigere Kamera.
Dass Pellejero nämlich ansonsten ganz anders zeichnet, lässt sich auf Deutsch überprüfen in seinen Werken DIETER LUMPEN und REGENWOLF.
Autor Canales will seinen Stoff mit historischer Relevanz aufladen, stellt sich damit aber selbst ein Bein. Sein Abenteurer ist zwar zur richtigen Zeit am richtigen Ort, Setting und Atmosphäre sind stimmig, doch was er seine Hauptfigur durchleben lässt, gerät zu fahrig, zu sprunghaft, zu unfokussiert.
Ich möchte mein Fazit in folgende Metapher kleiden: hübsche Töne, aber keine Melodie. Nette Sequenzen, aber kein Flow.
Aber ist CORTO MALTESE – DIE LEBENSLINIE damit nicht doch recht nah bei Pratts „erzählerischen Qualitäten“?!
Mit dieser schäbigen rhetorischen Frage entlasse ich Sie, Corto-Fans oder nicht. Sie können noch in den Band hineinschauen.
Das Einbetten eines Instagram-Reels in WordPress funktioniert nicht mehr, ich kann Ihnen nur den Link zum Originalpost geben (wofür Sie allerdings dort angemeldet sein müssen).