Ich bin ein bisschen verliebt in Lynda Barry. Diese außergewöhnliche Künstlerin aus den USA ist in Deutschland nicht veröffentlicht, aber auf jeden Fall eine Entdeckung.
Aufmerksam wurde ich auf Barry am Rande einer ComFor-Tagung zu Genderthemen und setzte mir ihr Werk ONE HUNDRED DEMONS auf die Suchliste. (Als alter Horrorcomic-Experte sprach mich das an.) ;- )
Barry übrigens hat gar nicht so viele Comicarbeiten abgeliefert, die Hälfte ihrer Publikationen sind Instruktionsbücher und Anleitungen zum Zeichnen. Kein Wunder, arbeitet sie doch seit langen Jahren als „creativity teacher“.
Auch ONE HUNDRED DEMONS ist eingerahmt von einer persönlichen Ermutigung, Stift und Pinsel in die Hand zu nehmen und der Kreativität Raum zu geben. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Querformatband mit Stripgeschichten eine ausgefuchste, clever geskriptete Graphic Novel in Miniaturkapiteln ist!
Barry zaubert hier, versteckt es aber unter beiläufig wirkenden Memoiren an eine schräge Jugend. Die einfachen Bilder und das große, kindliche Lettering transportieren knackige Lebensweisheiten, verpackt in die Rückschau auf eine Welt, die man noch anders wahrgenommen hat.
Die Autorin/Zeichnerin vermischt bewusst Autobiografie mit Fiktion, um den Gehalt der Storys zu übersteigern – dafür hat Barry vor über 20 Jahren den Begriff „Autobifictionalography“ erfunden.
In teils kauzig betitelten Kapiteln („Head Lice and my Worst Boyfriend“, „Common Scents“, „Girlness“) erinnert sich Barry an ihre Jugend als Außenseiterin in einem ärmlichen Viertel von Seattle. Das sommersprossige Mädchen hat unmögliche Haare, wirkt wie ein Junge und stammt aus einem Filipino-Haushalt.
Ihr Ringen um Anerkennung bringt sie in peinliche Situationen, stets bedrängt von der herrischen Mutter, die ihr das Leben vorschreiben zu müssen glaubt. Aber erst mal stelle ich Ihnen die beiden vor:
Lynda wäre gerne mädchenhafter und fragt ihre Mutter, ob sie ihr deshalb ihr Haar lang wachsen lassen solle. Die Mutter blafft mit brutaler Offenheit zurück:
Beachten Sie, wie Barry den kurzen Dialog mit dieser Rückfrage versieht, die eigentlich völlig überflüssig ist („Du?“ – „Ja.“), gerade dadurch aber die Szene noch verschärft. Das ungläubige „You?“ der Mutter (es ist niemand sonst im Raum, der gemeint sein könnte) nimmt Anlauf für das nun erst recht vernichtende Urteil („Es sähe grauenvoll aus.“).
Noch dazu striegelt die Mutter ihr seidiges Haar, kaut eine Zigarette und versteckt ihre Augen hinter einer spiegelnden Brille.
Diese detaillierten, fast unterbewusst agierenden Marker nutzt Barry höchst effektiv, um eine Stimmung zu kreieren, siehe zweites Panel:
Die verbales Feuer und Zigarettenrauch spuckende Mutter ätzt einem blondem Mutter-Tochter-Gespann hinterher. Die Zufriedenheit der Gruppe links (die selig grinsende Puppe, der behütende Arm auf der Schulter) steht im Kontrast zur Gruppe rechts (die abgewandte Mutter mit Lynda im Schlepptau).
Subtil macht Barry hier zudem klar, dass ihr als Kind Lynda nur die Nachahmung der Mutter übrig blieb, um sich ihr verbunden zu fühlen: Auch sie wirft dem Paar einen verächtlichen Blick hinterher (obwohl sie gerne wie das blonde Mädchen wäre).
Betrachten wir ein nächstes Bildpaar:
Der Kontrast von Arm und Reich schlägt sich nicht nur im Bildhintergrund nieder, sondern auch in der düster kolorierten Clique mit den Unisex-Allzweck-Klamotten. Niemand dieser Kinder hat ein Accessoire, dafür haben mehrere Pflaster auf Armen und Beinen.
Rechts hingegen die Mädchen vom sonnigen Ende der Straße: Sie sind allesamt adrett frisiert und gekleidet, jede hat ein Püppchen oder Täschchen in der Hand oder ein Schmuckstück an sich.
Zur Betonung setzt Barry noch ein ironisch gemeintes „Us versus Them“ in Schriftkästen darunter. Für diese Jugendlichen fühlt sich ihr Leben an wie ein Kampf der Systeme oder Glaubensrichtungen.
Barry steigert diese Konfrontation in einer exemplarischen Begegnung von Lynda mit einem der „besseren“ Mädchen: In einer superpeinlichen Aktion versucht Lynda, eine leere Pflasterpackung gegen eine Puppe einzutauschen. Wie in einem Western-Showdown stehen sich die Mädchen mit vorgehaltenen Objekten gegenüber und feuern ihre Worte ab.
Lynda: „Tauschste?“ – Mädchen: „Spinnst wohl!“
Dreimal müssen wir nicht raten, um zu wissen, wer in diesem Duell getroffen wurde.
Wiederum überhöht Barry die Dramatik der Szene mit einem (unnötigen) Verweis, wer wer ist.
Das zweite Panel präsentiert eine unheimliche Transformation: Lynda fantasiert sich als feines Mädchen, doch die Vorstellung wirkt schief und macht uns lachen. Das Lynda-Girl scheint sich in ihrem Kleid nicht wohl zu fühlen, schon ihre Puppe sieht schräg aus. Die Puppe ist Parodie der Menschen-Puppe!
Die Demütigungen reißen nicht ab, siehe folgende Szene, in der Lynda eine neue Freundin fragt, ob sie ihre Tanzpartnerin bei einem Wettbewerb sein möchte. Wieder haben wir einen pointierten Schlagabtausch, der im zweiten Panel noch in einen beleidigenden Monolog mündet. Die Freundin verklickert Lynda, dass sie beim Tanzen geistesgestört wirke (und zudem aussehe wie Alfred E. Neumann vom MAD-Magazin).
Einerseits berührt uns die Ablehnung und Herabstufung, andererseits sind wir sofort bereit, der Tirade zu glauben: Die junge Lynda hat etwas von einer MAD-Figur, wahrscheinlich tanzt sie wirklich seltsam.
Die Kunst von Lynda Barry besteht darin, dass sie Alltäglichkeiten scharf beobachtet, in typischen Szenen widerspiegelt – und uns am Schluss noch eine kleine Moral mit auf den Weg gibt: Es nutzt nichts, sich zu grämen oder zurückgesetzt zu fühlen. Das Universum bietet für jede/n einen Platz, den wir uns sichern können.
Ich möchte noch ein paar Seiten zeigen und weiter erläutern, um zu demonstrieren, wie geschickt und effizient Barry ihre Episoden aufbaut: Wir bleiben beim Thema Zugehörigkeit und Zurückweisung und werden Zeuge gescheiterter Annäherungsversuche an Spielkameradinnen.
Links steht Lynda im Verdacht, Kopfläuse („cooties“) zu haben; rechts macht sie sich interessant mit Insiderwissen über Insekten. In beiden Fällen läuft sie komplett auf.
Links stößt ihre Forderung auf Teilhabe am Ballspiel auf taube Ohren (ihr neunmalkluges Argument verfängt bei Kindern nicht); rechts will sie sich eine Partyeinladung erlabern, wird aber kalt abserviert mit einem kürzestmöglichen „So?“ – „No!“
Fast masochistisch beschriftet Barry das Mädchen mit bewundernden Attributen, was die Ablehnung nur noch schlimmer macht (aber auch komische Fallhöhe zwischen den Figuren schafft).
Reflektiert und sezierend betrachtet die Künstlerin ihre kindliche Protagonistin, dabei die Instrumente ihrer „Fikto-Autobiografie“ einsetzend. Seziert werden jedoch nicht Menschen, sondern die kranken Verhältnisse einer Gesellschaft, die solche Menschen hervorbringt. Dazu noch ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte, dem US-Wahlkampf Bush-Gore im Jahre 2000.
Künstlerin Barry (nun erwachsen) und ihr Ehemann warten auf das Wahlergebnis (das sich bekanntlich über Wochen hinzog). Die Medien machen einen Zirkus daraus, dem Barry verfällt und darüber zu verwahrlosen droht:
In weiteren Momentaufnahmen (Tag X, Tag Y) sehen wir Lynda abdrehen (was Barry als wachsende Verrücktheit inszeniert). Sie wird zur gestörten Persönlichkeit, die im Schlafanzug mit dem Fernseher schimpft. Das ist für uns tröstlich, denn kennen wir solche Krisen nicht alle?!
Als ausgewähltes weiteres Werk (neben ONE HUNDRED DEMONS) möchte ich noch WHAT IT IS präsentieren, ein großformatiges 200-Seiten-Hardcover von 2008 (seitdem mehrfach nachgedruckt), in dem Barry hauptsächlich mit Collagen arbeitet.
Hier erleben wir zur Hälfte Schnipsel aus ihrer Biografie und zur Hälfte künstlerisch aufbereitete Fragestellungen, die unsere Kreativität beleuchten und anregen sollen.
Liest man mehrere Werke von Barry, lassen sich Querbezüge finden. Ich zeige eine Seite, auf der Lynda davon erzählt, wie sie mit 12 Jahren das laute Singen einstellt.
Ähnliches macht Barry in ONE HUNDRED DEMONS in Stripform (wir haben oben das Beispiel mit dem Tanzen gesehen).
In WHAT IT IS gestaltet sie den Moment als blumige Collage. Dominiert wird die Seite von einer ekstatischen Lynda (oben rechts), die mit nach oben verdrehten Augen und grotesk schlenkernden Armen eine Schnulze kräht; die über ihr schlummernde Katze scheint keinen Anstoß an ihrem Gesang zu nehmen.
Im Kontrast steht die Mädchenfigur unten links, die plärrend lacht und mit dem Finger auf Lynda zeigt. Wir schlussfolgern, dass Lynda peinlich berührt ist und verstummt.
Noch einmal aufgegriffen und als Comicstrip in den Marginalien links und unten ausgeführt, erleben wir eine weitere Gesangseinlage (offenbar „Delilah“ von Tom Jones!), in der Lynda selbstvergessen den ebenfalls schmalzigen Schlager interpretiert.
Hier bremst sie ein Kommentar auf dem Off („Herrje, alle hören dich!“), woraufhin wir ihre Reaktion erleben – sie scheint sich selbst zu ohrfeigen und schuldig zu fühlen. Die Natur bleibt weiter unberührt von Lyndas Versagen; wie zum Trost (oder wie zum Spott) schaut ein unbeteiligtes Häschen auf die Szene.
Andere Szene: Schauen Sie, wie kompakt Barry die Verlorenheit einer Kindheit auf nur einer Seite einfängt:
Barry verliert sich jedoch nicht in der Rückschau, sondern koppelt diese Anekdoten an geradezu philosophische Überlegungen, die uns auch kritisch hinterfragen lassen, ob wir uns überhaupt korrekt erinnern (können).
Siehe folgende Seite: Was ist eine Erinnerung – und wenn eine solche in uns hochsteigt, wer oder was in uns registriert diese?
Sind Erinnerungen in Form von Bildern gespeichert? Wie funktionieren diese?
Wie überhaupt erkennen wir Bilder, ordnen ihnen Inhalte zu? Können wir Dinge erinnern, die wir uns nicht bildlich vorstellen können?
Das klingt wie ein Trommelfeuer aus gelehrten Fragen und wäre unter Umständen nervig, doch bei Lynda Barry wirkt es charmant und unprätentiös.
Hinten im Buch gibt es praktische Übungen, zunächst einmal zum Schreiben. Wie finden wir eine Story?
Welcher Zugang ist vielversprechend?
Grübeln, grübeln, noch mehr grübeln – oder einfach mit einem Gedankenbild beginnen?
Dazu Barry: „Liste zehn Autos auf, in denen du gesessen hast.“
Automatisch tauchen Bilder und dazugehörige Episoden auf: Wo warst du mit diesem Auto unterwegs? Wer war noch im Auto? Wohin ging die Fahrt? Was ist dabei passiert?
Lustiger wird es mit einer nächsten Übung: Liste zehn Mütter, die dir einfallen!
Denken Sie kurz an die Mütter Ihrer Schulfreunde, zum Beispiel, es werden Bilder hochkommen. Barry inszeniert die Aufgabe mit Selbstironie, ihr entfährt ein halber Fluch „Was zum … Die Mütter anderer Leute?!“.
(Zugleich führt sie ein Zwiegespräch mit ihrem künstlerischen Genius, dem Hirnkraken („Cephalopod“).
Auch bemerkenswert finde ich folgenden Gedanken: „Wir erfinden keine Geschichten, um der Realität zu entfliehen, wir erfinden sie, um sie aushalten zu können.“
Wenn wir ein Buch lesen, uns ein Buch „einverleiben“, ist dieses Buch dann fortan in uns vorhanden?
Ich muss diese Frage für mich nicht beantworten, ich nehme sie auf, staune und schmunzle darüber – und vielleicht wirkt sie noch in mir nach. Nichts weiter ist auch Barrys Absicht, die uns sacht auf Dinge stößt, uns Ideen unterjubelt, die wir bislang noch nicht hatten.
Das ist die Kunst einer „Kreativitäts-Vermittlerin“! Barry ist die beste!
Im nächsten Tableau ringt Lynda Barry mit den Dämonen des Anspruchs: Zeichnet man „professionell“, droht der Spaß an der Kunst verloren zu gehen. Die Auflösung des Dilemmas, verrät sie einige Seiten später, liegt im Loslassen solcher Gedanken. Nur unbelastetes, unbewusst vollzogenes Probieren befreit den Geist.
Barry hat definitiv keine leichte Jugend gehabt, was sich in ihren Werken spiegelt. ONE HUNDRED DEMONS präsentiert eine unablässig keifende Mutter, WHAT IT IS rekapituliert triste Jugenderinnerungen, in ihrem Roman CRUDDY hat Hauptfigur Roberta Eltern, die sie auf schlimmste Weise vernachlässigen.
Roman, was für ein Roman?
Obwohl CRUDDY als „illustrated novel“ vermarktet wird, ist es ein veritabler Roman mit eingestreuten Illustrationen. Und was für ein Roman, Herrschaften!
CRUDDY hat mich derartig elektrisiert, dass er meine Leseerfahrungen mit Bukowski, Salinger oder Burroughs aber dreimal in den Schatten stellt.
Dieser Roman ist eine atemberaubende Tour de Force durch ein White-Trash-Amerika, das kaputter als kaputt ist.
In alternierenden Kapiteln begleiten wir die 16-jährige Roberta, die von Zuhause weggelaufen ist und jetzt mit schrägen Bekanntschaften auf einem Drogentrip ist.
In Rückblenden erfahren wir, dass Roberta vor zwei Jahren am Tatort eines Massakers aufgefunden wurde. Dieser Handlungsstrang offenbart uns, dass sie mit ihrem kriminellen Vater eine Schneise der Verwüstung durch die Provinz geschlagen hat.
Das alles ist unglaublich brutal, wird von Barry jedoch so lakonisch und skurril präsentiert, dass man nicht zu lesen aufhören kann. Wuchtiger als ein Tarantino-Film und unterhaltsamer als jeder Krimi!
(Achtung, Sie benötigen zur Lektüre ein gutes Straßen-Amerikanisch, schon ich habe nicht jede Phrase verstanden!)
Diese Lynda Barry ist ein Mensch, der uns noch die peinlichsten und abartigsten Begebenheiten mit einem Augenzwinkern und einer das Elend transzendierenden Humanität serviert.
Diese Frau hat ein großes Herz, das sie uns in vermeintlich simplen Bildern ausschüttet. Übersehen Sie dabei nicht, wie unglaublich kunstvoll Barry ihre Worte wählt und damit ironischen Trost transportiert.
Ein bisschen verliebt bin ich schon in Lynda Barry.
Natürlich blättere ich zur Anmutung durch die beiden Illustrationsarbeiten: