UNTER KRÄHEN

Autsch, eine schwere deutsche Graphic Novel!
Genau das Ding, vor dem die Comicfraktion immer warnt: spröde, humorbefreite Anspruchs-Bildliteratur, die uns den Spaß verderben will.

Aber ist es so?

 

UNTER KRÄHEN ist ein selbst erklärtes Sittenbild „Aus dem Inneren der Republik“, pompöser kann man eine Ansage kaum treffen. Ein 150-Seiten-Ritt durch zehn Monate in Berlin, es geht um die Protagonisten eines Untersuchungsausschusses, der eine rechtsextreme Mordserie aufklären soll. Es beginnt eine im Hintergrund geführte Schlammschlacht um Einflussnahme und Diskreditierung.

Das hat erkennbar reale Bezüge, auch wenn die auftretenden Personen fiktive Namen tragen und nicht mal einer Partei zugeordnet werden. Der engagierte Ausschuss ist auf der Spur von belastenden Dokumenten, die den Verfassungsschutz schlecht aussehen lassen und für ein Köpfe-Rollen sorgen dürften.

Berlin, im Regierungsbezirk.

 

Jetzt kann man natürlich sagen: Brabrabra, lasst mich in Ruhe mit dem Käse, Politik ist langweilig und lässt sich grafisch nicht spannend umsetzen. Geh weg, will ich nicht lesen!

Zwei Dinge beeindrucken mich jedoch an UNTER KRÄHEN:

 

Erstens das Artwork von Vincent Burmeister (gestaltete für Carlsen 2012 den Politcomic KRIEGSZEITEN), der sein Berlin aber sowas von in ‚50 Shades of Grey‘ erstrahlen lässt, dass es kunstvoll wirkt!
Bleigrau bis zum Anschlag, aber dennoch schick und variantenreich.
Und er macht eben KEINEN Talking-Heads-Comic draus.
Meint: UNTER KRÄHEN enthält sich sehr einer tödlichen Dialoglastigkeit (wo ein Zeichner nur ‚sprechende Köpfe‘ möglichst kreativ einfangen muss).

Politiker Desader in Besprechung mit seinem Team.

 

Burmeisters Kamera fliegt wie die titelgebenden Krähen über die Stadt und durch die Räume, verliert sich ab und an in Zooms und Makroaufnahmen, bleibt überraschend in seinen Bildern und geht oft völlig weg vom Thema.
Das ist auf erfrischende Weise künstlerisch und keinen Moment langweilig.

Politiker Nordmann cruist einsam durch die City.

 

Jetzt hämmere ich noch ein Megakompliment hinterher: Burmeister erinnert mich ansatzweise an den großen Alberto Breccia mit seinen stakkatohaft verfalteten Gesichtern und seinen atemberaubenden Bleistift-, Schwamm- und Tuschespritzer-Landschaften. (Klingt seltsam, ist aber so.)
(Gut, ich hatte Minuten bevor ich UNTER KRÄHEN aufschlug, zufällig in Breccias MORT CINDER geschaut, aber ich stehe zu meinem Urteil!) :- )

Zeichner Burmeister fängt Outdoor-Stimmungen ein und führt uns zum Ballett in die Oper.

 

Zweitens beeindruckt mich auch das Skript von David Schraven (der Mann ist sturmerprobter Journalist, „Welt“, „taz“, „Süddeutsche Zeitung“ und Gründer des gemeinnützigen Recherche-Büros Correctiv, in dessen Verlag UNTER KRÄHEN 2018 erschienen ist).

Höchst clever streckt Schraven das Geschehen über diesen Zeitraum von zehn Monaten und ein Arrangement von Dutzenden kürzester Szenen, braucht pro Doppelseite kaum mehr als zehn KLEINE Sprechblasen oder Textkästen!
Das liest sich rasant und kurzweilig und lässt mich als Leser wie eine (weitere) Krähe durch diese Graphic Novel gleiten. Nirgendwo stört da was oder bremst meinen Lesefluss, das ist schon großartig komponiert.

Das ist also eine verdammte Menge, was ich da beeindruckend finde.

Kommen wir zur Kritik.

 

Der Comic ist nicht zu verstehen ohne den beigelegten Flyer, der die handelnden Figuren auflistet. Das hätte man doch ohne Not auf ein oder zwei Seiten ins Buch drucken können. Flyer weg, Verständnis weg! Ist aber eine Petitesse.
(Das sind nicht diese Frauen, die Strafzettel schreiben, Entschuldigung, wieder die Pillen gegen die Albernheit einzunehmen vergessen …)

Schwerer wiegt Schravens dramaturgische Über-Verdichtung.

Er lässt im politischen Berlin ganze vier (!) – noch dazu männlichePolitiker auftreten. Er beschränkt sich also auf NUR vier Personen, was zwar praktisch und übersichtlich ist, aber auch eine Falle ist.
Denn der Preis dafür ist, dass drei der vier absurd überzeichnet sind:
Nagy ist ein Päderast, der über Kinderpornos stolpern wird; Nordmann ist ein Crystal-Meth-Junkie und Desader schlägt Frauen!

Obwohl uns glaubhafte Quellen versichern, dass all das im politischen Berlin vorgekommen ist, malt es ein krasses und letztlich lachhaftes Bild unserer Figuren.
Es ist lächerlich, tut mir leid.

Schraven BRAUCHT das, um in seiner Komprimierung die Figuren gegeneinander auszuspielen (und am Ende den Untersuchungsausschuss im Sande verlaufen zu lassen), aber es bleibt eine prinzipielle Anmutung von Unglaubwürdigkeit.

Hier schwingt UNTER KRÄHEN den moralischen Zeigefinger und stürzt in die Fallgrube der Schwarzweiß-Malerei, entgegen aller Betonung, das Leben bestehe doch gerade aus Grautönen.

Also: Ich applaudiere dem Versuch, einen deutschen Politthriller in Comicform zu wagen – aber dafür ist UNTER KRÄHEN dann zu vorhersehbar, zu ernst und nüchtern („spröde“ habe ich eingangs schon benutzt).

Andererseits ist UNTER KRÄHEN eine flotte, griffige, ansprechend gemachte Graphic Novel, die sich den NSU-Skandal zur Brust nimmt. Bravo!

Sie sehen: Zwei Seelen in meiner Brust. Ich bin Wessi, ich bin Ossi. Ich bin deutsch.

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