MONDO REVERSO und Underground

Erst war ich misstrauisch. Ich sah einzelne Panels und dachte: „Hmm, die wirken ein bisschen schief und nicht allzu organisch.“
Ich hörte von der Handlung (ein Western, in dem die Frauen die Cowboys sind und die Männer die objektifizierten Partner/ Playthings/ Domestiken) – und war weiter misstrauisch!

Dann hab ich im Comicladen reingeblättert und erkannte schnell, dass zumindest das Artwork von Dominique Bertail wunderbar organisch ist:
Der Mann komponiert ein geniales Layout aus meist dicht arrangierten Panels, die wundervoll die jeweilige Stimmung einfangen. Auch kommt sein verwaschener Stil in der Schmuckfarbe, ein bräunliches Sepia, perfekt zur Geltung.

Bertail illustriert fast märchenhafte, überklischierte Settings, die dem Stoff eine magische Anmutung verleihen: So ist der Westen! Aber eben garantiert auch nicht, denn es ist nur unser Abziehbild vom Westen!
Kakteengesäumte Wüsten, karge Felslandschaften, schneebedeckte Bergkuppen, verfallene hispanische Klöster, puffige Saloons, folkloristische Indianerdörfer, ein Bad in der Furt des Flusses – eigentlich lachhaft, aber doch höchst befriedigend.

Indianerinnen überfallen die im Fluss badenden Männer.

 

Das alles schenkt uns der Autor, Arnaud Le Gouëfflec, der MONDO REVERSO
in 14 Kapitel zu je fünf Seiten unterteilt hat. Erst verfolgen wir die parallel erzählten Erlebnisse unserer Hauptfiguren: Cornelia (das taffe Cowgirl) und Lindbergh (der Mann, der sich ein Leben sucht). In Kapitel 6 treffen sich die beiden und setzen ihre Reise fortan gemeinsam fort.

Cornelia ist zu diesem Zeitpunkt eine Frau, die sich als Mann tarnt. Lindbergh ist zu diesem Zeitpunkt ein Mann, der sich als Frau tarnt.
Das müssen Sie jetzt nicht verstehen, das will ich hier auch nicht aufdröseln.
Ich gehe nicht auf die Handlung ein, entdecken Sie die bitte für sich selbst.
Ich sage nur: Es funktioniert, es ist anregend, verblüffend, verrückt und auch sehr lustig.

Die hagere Kopfgeldjägerin Hatchet trifft zum ersten Mal auf Cornelia, nicht ahnend, dass sie bald zu Todfeindinnen werden.

 

Eingehen will ich noch kurz auf den speziellen Zeichenstil von Bertail und hier auf eine Besonderheit hinweisen.
Das Eigenartige an MONDO REVERSO (und auch das ambivalent Faszinierende) ist, dass wir es mit einem Zwitter aus realistischem Strich und Semi-Funny zu tun haben. (Semi-Funny wäre LUCKY LUKE, realistischer Stil wäre BLUEBERRY.)

Bertail aber verschiebt den Realismus an die Grenze zum Semi-Funny. Das hat noch kein Western gewagt. Was ich meine? Dass die Körper der Figuren nicht immer anatomisch richtig sind (bei den Charakteren Mumu, Camillo und Hatchet geht es deutlich ins Karikatureske, nicht so bei Cornelia, Lindbergh, Dedi und Myrtel).

Dann erlaubt sich Bertail (selten zwar, aber er tut es) Bildchiffren des Funnys wie fliegende Schweißperlen, Schmerzsternchen, Schwindelkringel, Ärgerwölkchen.
Ein markanter Ausbruch findet sich auf Seite 57.

Detail: Camillo lässt tüchtig einen fahren und löst eine Prügelei aus – und die passt vom Look her eher in ASTERIX als in einen Westerncomic.

 

Glauben Sie nicht? Ausrutscher? Dann zeige ich Ihnen noch das Pferd.

Detail von Seite 45: Ritt durch die Wüste. Reiterin Mumu ist beleibt, zugegeben, aber hamse schon mal ein Pferd SO gucken sehen?!

 

Fazit A: MONDO REVERSO ist allein grafisch eine Entdeckung, weil dieses Album auf diesem Grat wandelt. Kommt realistisch daher, aber bedient eine irritierende Unterströmung des Funnys.

Fazit B: Ich begreife MONDO REVERSO als einen „Underground-Western“.

Denn hier steht alles Kopf und ist vollkommen anarchisch; es geht mit unprovozierter Gewalt rabiat zur Sache (ich zähle 16 Tote); der Comic strotzt vor sexuellen Groteskerien und ergeht sich Slapstick-genüsslich in Genderbender-Quatsch.

Es ist, als hätten Le Gouëfflec und Bertail den guten alten S. Clay Wilson „gechannelt“ – freut mich außerordentlich!

Bandenchefin Mumu lässt die Hosen runter, draußen schlägt die Dramatik betonend der Blitz ein.

 

Ich vermisse den Underground in der heutigen Comiclandschaft.
Ich vermisse nicht den inhaltsleeren, frauenfeindlichen, drogenseligen Underground.
Ich vermisse den frechen, respektlosen, durchgeknallten Underground.

Den gab es hauptsächlich in den 1970er- und 1980er-Jahren, es gibt ihn nicht mehr.
Robert Crumb ist schon lange bürgerlich geworden, Marcel Gotlieb ist tot, Ralf König von der Hochkultur vereinnahmt, Walter Moers ist Schriftsteller, Robert Williams ist Maler, Thomas Bunk ist bei MAD, Fil macht Pause, Kim Deitch ist vergessen, Weissblech-Comics werden immer seriöser, Édika wird mit einem Supermarkt verwechselt und Justin Green ist so obskur, dass ihn keiner mehr kennt.

Ich träume manchmal von Comics, die mir Schweinereien zwischen Alice Weidel und Andrea Nahles ausmalen.
Comics, in denen Messdiener Jagd auf pädophile Priester machen.
Comics, in denen sich Donald Trump und Kim Jong-un zum Gipfel treffen, aber beide mit Durchfall auf einer Toilette gefangen sind.
Ich sach nur. Ich nehme Vorschläge an …

Aber vielleicht schleicht sich wieder Hoffnung an. In Form eines Westerns.
(Ha, wenn Sie wüssten, auf welch derber Note MONDO REVERSO endet! Hehehe.)

HIER Noch die Verlags-Leseprobe einsehbar (aber nur zwei Seiten).