Mal schauen, ob ich Sie für einen Horrorcomic gewinnen kann.
Obschon bereits Ende Mai 2019 erschienen, habe ich diese in sich abgeschlossenen 170 Seiten erst jetzt gelesen – und war restlos begeistert!
Dieser Comic hat mich von der ersten bis zur letzten Seite elektrisiert.
So brillant geschrieben und gezeichnet, dass MAGIC ORDER etwas für jede und jeden ist. Es geht auch nicht um Vampire, Werwölfe und Zombies, sondern um Zauberer. Jawohl: Zauberer, Magier und Hexen. Ein vernachlässigtes Thema im Horrorgenre, wie ich finde.
Aber DOCTOR STRANGE beweist, dass Magie cool sein kann – und uns wahrhaftig Fantastisches präsentieren kann. Und was gibt es Schöneres als bewusstseinserweiternde Unterhaltung?!
Gut, man muss als Prämisse natürlich akzeptieren, dass es so etwas wie Zauberei geben könnte. Und dann ist auch ohne weitere Erklärung alles möglich; sehr praktisch für die Plot-Entwicklung.
Darum benutzt ein gutes Skript über Magie diese auch bloß als Folie, um uns Geschichten über die Menschen zu erzählen, die mit dieser Gabe gesegnet oder gestraft sind. So passiert es auch in MAGIC ORDER:
Ein Orden von Magiern beschützt unsere Welt vor dem Bösen, ohne dass wir Menschen es ahnen. Wer dankt es ihnen? Niemand.
Kein Wunder also, dass diese Zauberinnen und Zauberer dysfunktionale Verhältnisse untereinander entwickeln und sich in zwei Fraktionen bekämpfen.
MAGIC ORDER ist die Erwachsenenvariante von „Harry Potter“.
Es geht um Macht, um Schuld, um Sühne, um Verfehlungen aus der Vergangenheit – exemplifiziert an der Familie Moonstone:
Vater Leonard ist der Patriarch, der als offene Tarnung tatsächlich ein Leben als Zauberkünstler führt.
Sein erster Sohn, Regan, ist seine rechte Hand und Manager, hilft ihm bei seinen Einsätzen zur Rettung der Welt.
Sein zweiter Sohn, Gabriel, war ein mächtiger Magier, bis seine Tochter Rosetta bei einem Zauberunfall ums Leben kam; seitdem hat er der Magie entsagt und hält sich raus.
Cordelia schließlich ist die flippige, unberechenbare Tochter, die sich magische Erlebnisse mit Sex und Drogen erhofft und eine verkrachte Existenz als Partyzauberin bestreitet.
Und dann ist da noch Onkel Edgar, der ganz allein das transdimensionale Schloss bewohnt und behütet. Das Refugium für die Moonstone-Familie und ihre Verbündeten, das nur sie auf Einladung hin betreten können.
Diesen Rückzugsort brauchen unsere Helden auch, denn die sinistre Madame Albany trachtet ihnen nach dem Leben. Albany hat eine Schar dunkler Magier um sich versammelt und die Dienste eines „Superzauberers“ namens „der Venezier“ rekrutiert.
(Gut, diese Truppe tritt in klischeehaftem Schwarz auf, aber, hey, ein bisschen Budenzauber und Hommage an allgemeines Bösewichte-Tum sei erlaubt.)
Wobei sofort angemerkt sein muss, dass die Superschurkin kein weiblicher Voldemort ist, sondern nur eine höchst entschlossene Visionärin, die ihren Businessplan verfolgt.
Wenn auch aus etwas küchenpsychologischen Motiven: Ihr Vater hat ihr nie was zugetraut, das zahlt sie jetzt allen heim. Das aber erklärt sie so offen, dass es wieder entwaffnend ist – und funktioniert.
Was mich an MAGIC ORDER wirklich elektrisiert hat, ist nicht nur, dass der Stoff dramaturgisch perfekt gebaut ist, seine Figuren effektiv charakterisiert und lebendig werden lässt, sondern zudem noch Szene für Szene originell und einfallsreich ist.
Das ist fast schon unverschämt gut.
Ich zeige im Folgenden vier Beispielszenen, die die Qualität dieses Werks augenfällig belegen.
Die Vorstellung von Cordelia, die wir auf dem Rücksitz eines Polizeiautos kennenlernen. Selbstironisch kommentiert sie, weshalb man sie auf einem Kindergeburtstag verhaftet hat.
Die beiden Polizisten, die stumm ihrem Monolog zuhören (Zauberer brauchen immer ein Publikum), wundern sich über ihre Bezeichnung als „Entfesselungskünstlerin“.
Dankbar für das Stichwort, setzt Cordelia lächelnd ihre Pointe, wir blättern die Seite um – und weg ist sie! Sie beherrscht offenbar echte Magie, aber werden die Polizisten sich das selber eingestehen?
Zweite Szene: Konfrontation am Grab des Zauberers Eddie, der ganz zu Anfang des Comics mit einem Messer in den Hals erstochen wird. Uneingeladen taucht Madame Albany mit ihrer Truppe auf. Regan und Moe gehen sie an, Albany weist kühl darauf hin, dass Leonard über die Macht verfügt, Tote wiederzubeleben.
Dieser Satz etabliert den Kampf um das magische Buch, das in der Tat über Superzaubersprüche gebietet, die der Orden bislang nicht angewandt hat. Albany möchte das ändern.
Albanys rechte Hand, der finstere Formwandler Cornwall, erlaubt sich einen makabren Scherz und erscheint als Leiche des Verstorbenen. Das charakterisiert auch ihn als fiese Type.
Die nächste Seite macht nochmal klar, dass es sich um Formwandelei handelt, dann zaubern sich die Bösewichte hinfort. In der letzten Bildreihe wird die Witwe getröstet, Leonard und Regan konstatieren die Fakten: Albany ist auf dem Kriegspfad, es wird nur schlimmer werden. (Das Taxi im Bildhintergrund liefert die verspätete, verpeilte und verkaterte Cordelia an.)
Nächste Szene: Mein Beispiel für die außergewöhnliche Magie, die sich MAGIC ORDER erlaubt, sei das „umgestaltete Wohnzimmer“: Der Ordensmagier Dong-Sun verabreicht einer alten, kranken Dame eine magische Suppe, um sie wieder zu Kräften zu bringen. Ihr ebenfalls anwesender Sohn bemerkt, dass sich das Dekor des Zimmers ändert.
Dong-Sun realisiert blitzartig, dass er in eine tückische Falle gelaufen ist: einen Wandelzauber. Der Magier erklärt dem Sohn (stellvertretend für uns Leser), was geschehen wird. Tatsächlich beginnt sich der Raum (und zum Schrecken aller: auch die Frau) aufzulösen!
Die nächste Seite präsentiert uns den Abschluss der Verwandlung und ein neues Wohnzimmer mit neuen Bewohnern. Zugleich erleben wir die Hilflosigkeit von Dong-Sun angesichts dieses schrecklichen Zaubers (den ich absolut abgefahren und großartig finde!)
Doch damit nicht genug. Die folgende Seite verdeutlicht die Szene durch eine Frontalansicht der neuen Mieter, die herrlich gelangweilt auf dem Sofa sitzen und durchs Fernsehprogramm zappen.
Nichtsahnend, dass hinter ihnen das Monster steht, das den Zauber gewirkt hat. MAGIC ORDER macht uns erstmalig im Vollbild mit dem „Venezier“ bekannt!
Kommen wir zum Schluss zu einer dialogischen Sequenz, fast aus der Mitte des Comics, das Vater-Sohn-Gespräch im Auto: Gabriel Moonstone, der Zauberer, der kein Zauberer mehr sein will, entdeckt seinen Vater Leonard bei sich im Auto.
Leonard hat sich dorthin gezaubert, um Gabriel zurück ins Boot zu holen. Albany und der Venezier dezimieren die Reihen mehr und mehr – doch Gabriel bekräftigt, mit Magie nichts mehr zu tun haben zu wollen:
Im letzen Bild oben spielt Leonard darauf an, dass Gabriel die Sorgen seiner Frau wegzaubern könnte. Gabriel ignoriert den Einwand, er will Magie in keinster Weise mehr anwenden. Er hofft, unterm Radar bleiben zu können.
Leonard schwenkt in seiner Strategie um und offenbart seine Hoffnungen und Versäumnisse als Vater. Erneuter Appell an Gabriel, der alleine ebenfalls umkommen werde.
Gabriel reagiert mit einem fatalistischen Ausspruch:
Wäre er endlich tot, wäre Gabriel wieder mit seiner Tochter Rosetta vereint. Der Vater tut einen nächsten Schritt und gesteht dem Sohn seine väterliche Liebe. Er möge ihm nicht antun, was er selber mit der Tochter durchlebt habe.
Gabriel sackt stumm hinterm Steuer zusammen; das Whiteout im nächsten Panel markiert einen Flashback – Gabriel erinnert sich an den Tag, als Rosetta ums Leben kam.
Auf drei unaufgeregten, aber geschickt konzipierten Seiten haben wir den Stand der Beziehung zwischen Leonard und Gabriel erfahren.
Das Layout ist dominiert von Blicken, die Vater und Sohn austauschen (oder eben verweigern). Der Rest wird bestimmt von kleinen Gesten, die die Entfremdung zwischen beiden noch verstärken: Der Sohn schaut aus dem Fenster, der Vater „nimmt den Hut“ und verschwindet wieder.
Eine durch und durch cineastische Inszenierung, selbst der Übergang zum Flashback ist so auf der Leinwand vorstellbar.
So, MAGIC ORDER, wer hat’s erfunden?
Zeichner ist der Franzose Olivier Coipel, der schon kurze Läufe von THOR und den AVENGERS sowie den X-MEN-Spin-off HOUSE OF M illustriert hat. Seine erste Arbeit für Image besticht mit kreativen Einfällen, die den Ideen des Autors mehr als gerecht werden.
Coipels Stil ist glatt, aber eben nicht zu glatt. Er wählt fast ausschließlich Anschnitte seiner Gesichter, was einen prächtigen Generaleindruck des Halb-Verborgenen evoziert. Auch sein Faible für Nahaufnahmen und die gekippte Perspektiven verstärken den Effekt, dass im Bildabseits nur Dunkles lauern kann.
Solche Inszenierungen gefallen mir schon per se, doch Coipel legt noch kratzige Schraffuren, wilde Wischeffekte und deftige Tintenspritzer obendrauf!
Fein, fein, extrafein.
Autor ist Mark Millar, der mir ein bisschen suspekt ist, weil sein größter Erfolg (KICK-ASS) nicht den besten Ruf hat. Comicforscher befinden die Serie für homophob und gewaltverherrlichend, was ich sofort zu glauben bereit bin.
(Der erste Film hat zwar nichts Homophobes mehr, aber ist in Sachen Gewalt als zwiespältig einzustufen.)
Zudem scheint Mr. M. über ein großes Ego zu verfügen, denn er ist derjenige, der seine Werke schon 2004 zu „Millarworld“ konstituierte.
(Könnse sich im Deutschen vorstellen, eine Autorin wie Ildiko von Kürthy würde unter „Kürthywelt“ firmieren?)
Naja, Millarworld steht für KICK-ASS, KINGSMAN, WANTED, HIT-GIRL. Außerdem verkauft an Netflix (für eine ungenannte Summe), seither tragen auch die Comics ein Netflix-Logo.
Ich finde das eher unsympathisch, aber wenn Sachen wie MAGIC ORDER rauskommen, muss ich wohl Einbürgerung für Millarworld beantragen.
Die Hand ins Feuer legen kann ich zumindest für ein weiteres Millar-Werk: STARLIGHT.
Eine zu Herzen gehende, ironische, komische Hommage an klassische Superhelden des Golden Age. WATCHMEN, die heitere Fassung. Sehr empfohlen!
Zurück zu MAGIC ORDER und zu einer abschließenden Warnung:
Es gibt fiese, blutige Szenen von zerrissenen Körpern. Das ist grafisch schon „harter Tobak“. Aber Millar und Coipel geht es nicht um die Schockszenen, sondern um die Motivation dahinter. Stets befeuert menschliches Drama die Akteure in ihren Handlungen.
Was am Ende mit den Figuren geschieht, werde ich auf Teufel komm raus nicht verraten. Es gibt nen Twist und noch nen Twist uuuund … mich hat es sehr zufriedengestellt.
Dieser Comic kommt zum Wiederlesen in meine Handbibliothek.
Mark Millar selber hat MAGIC ORDER als „die Sopranos treffen auf Harry Potter“ beschrieben.
Und weil es so schön ist, blättern wir auf Instagram in den Comic hinein, doch nicht bis Schluss!