Abrechnung mit der Kunst: ALLES IST DADA

Man kann Künstlerbiografien langweilig finden. Gerade bei verfilmten Schicksalen prominenter Menschen schlafen mir oft die Füße ein. Die Graphic Novel dagegen hat ihre eigenen Möglichkeiten, ein Leben Revue passieren zu lassen.
Ich bin momentan sehr auf dem Trip, unkonventionelle Lebensentwürfe des frühen 20. Jahrhunderts zu studieren.

(Wer diesen Blog verfolgt, kann im Suchfeld desselben nach meinen bisherigen Einlassungen zu Erich Mühsam, Gregor Gog, Gusto Gräser sowie auf die Bücher von Kverneland & Fiske zu Kurt Schwitters, George Grosz und Olaf Gulbransson fahnden.)

ALLES IST DADA reiht sich nahtlos in diese Galerie der gezeichneten Entdeckungen; nur sind es in diesem Fall zwei Spanier, die das aufregende Leben der Emmy Hennings (der späteren Emmy Ball-Hennings) recherchiert, geborgen und ans Licht gebracht haben.

Nicht nur nehmen Fernando González Viñas (Text) und José Lázaro (Zeichnungen) deutschen Historikern die Arbeit ab – sondern der Band ist illustriert, als ob Isabel Kreitz sich für einen Comic mit Barbara Yelin zu einer Person verschmolzen hätte.
(Mein persönlicher Eindruck: Ich finde, der Stil liegt exakt zwischen Kreitz und Yelin, was mich schmunzeln lässt.)

ALLES IST DADA ist ein weiteres Highlight biografischer Archäologie, denn ich war vom Start weg gepackt:

Das Mädchen Emmy scheint ein verträumtes, liebes, hübsches Kind zu sein – doch ihre „ersten Worte“ machen klar, dass ihr Lebensweg kein normaler sein wird!

#MeToo lässt grüßen!

 

Inhaltlich verleiht Autor Viñas der Erzählerstimme von Emmy einen dunkel funkelnden Sarkasmus, der so schön trockene Bonmots prägt, dass es mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter jagt.

Emmy Hennings muss sich um 1908 herum in Münster an einer Kleinkunstbühne abseits derselben auch prostituieren: Ihre Schilderung, wie sie mit körperlichen Gefälligkeiten all die Regisseure, Kritiker, Kunden (die Einfluss haben auf Kritiker) und Bohemiens (die Einfluss haben auf Regisseure) bei Laune halten muss, belegen drastisch den strukturellen Machtmissbrauch, wie er seit #MeToo im aktuellen Bewusstsein verankert ist.

Kommentar Hennings: „Das Künstlerleben, eine einzige Lektion in Anatomie.“

Auch brilliert ALLES IST DADA mit einigen wundervollen Dialogen:
Kunde im Backstage des Theaters: „Bleiben Sie doch ein bisschen bei uns, mein Fräulein. Ein Glas Champagner?“ – Entgegnet Emmy: „Ich bin zu frivol, um es auszuschlagen.“

Else Lasker-Schüler geht Hennings eifersüchtig an die Gurgel: „Du Schlampe gehörst auf die Straße!“ – Ätzt Hennings zurück: „Mag sein, aber mich bezahlt man wenigstens.“

Hugo Ball bekommt nach der Vorstellung Besuch von seiner Mutter: „Wie fanden Sie es, Mutter?“ – Grummelt die: „Es ist eine Schande für den Familiennamen. Dass du dein Nietzsche-Studium für so was aufgegeben hast …“

Hans Arp will Emmy von seinen Idealen überzeugen: „Spiritualität, Pazifismus und freie Liebe verbinden uns.“ – Winkt Hennings ab: „Liebe statt Krieg? Für mich kommen Sie zu spät, und für die Welt zu früh.“

Oder folgende Schlüsselszene aus ihrer Beziehung mit Ferdinand Hardekopf, einem ihrer unzähligen Liebhaber:

 

Diese Frau brummt vor Persönlichkeit!

 

Schon auf Seite 28 (von 229) scheint sie aus dem Comic herauszutreten und uns, ihre modernen Leserinnen und Leser, mit einer klaren Botschaft zu adressieren.

 

Bei einem Aufenthalt in Köln lernt sie 1909 den schwulen Literaten John Höxter kennen, der sie aus der Gosse rettet, mit nach Berlin nimmt und in die dortige Boheme einführt. Sie wird Geliebte von Ferdinand Hardekopf, der sie morphium- und äthersüchtig macht, aber auch ihre Befähigung zur Schriftstellerin erweckt.

Dieses leider zu konventionell gestaltete Kapitel endet mit einem Abstecher nach Paris (ca. 1912), wo mich ALLES IST DADA versöhnt mit einer surrealen Soiree, auf der sich alles tummelt, was derzeit Rang und Namen hat.
Außer Picasso und Apollinaire.
(Die auch hätten anwesend sein sollen, aber kurzfristig verhaftet worden waren, angeblich wegen Tatverdachts auf Diebstahl der „Mona Lisa“; eine Randbemerkung, die ich nicht weiter recherchiert habe.)

Ich zeige die Seiten 69-71, auf denen frecher Witz regiert. Und es hauptsächlich um Cunnilingus geht.

(Später hinzu gesellt sich übrigens noch Rabindranath Tagore.)

Die Prominenten-Parade

 

Und weiter treibt es Emmy Hennings durchs Leben, nach München ins legendäre „Simplicissimus“ und in ein Dreiecksverhältnis mit Ferdinand Hardekopf und (neu!) Jakob van Hoddis.

(Und wenn Sie dachten: Hardekopf? War das nicht der mitDem Bürger fliegt von spitzen Kopf der Hut?“, dann lagen Sie falsch, denn Hoddis ist derjenige mit dem Gedicht „Weltende“: „In allen Lüften hallt es wie Geschrei / Dachdecker stürzen ab und geh‘n entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut“.)


Dann treten auch noch Frank Wedekind, Else Lasker-Schüler, Georg Heym, Rudolf Junghanns, Wassily Kandinsky, Franz Marc, Johannes R. Becher, Erich Mühsam, Lotte Pritzel und ihr späterer Ehemann Hugo Ball auf die Bühne.
Das alles innerhalb von 30 Seiten!

So gegen Mitte des Buches kommt mir ALLES IST DADA wie ein zwanghafter Namedropping-Exzess vor.

Was dem Werk nicht gut tut. Natürlich hat das alles seine historische Richtigkeit, doch dieses Abhaken von biografischen Stationen zerstört komplett den persönlichen Gedankenfluss und den kunstvollen Rhythmus dieser Comicerzählung, der mich auf den ersten 45 Seiten gefesselt hat.

So wird Emmy Hennings zur Statistin der expressionistischen Kunstbewegung, bestenfalls zu ihrer Muse. Letzteres war sie in der Tat auch, und zwar tüchtig, aber ich bedaure weiterhin den Verlust des kraftvollen Beginns.

(Warten wir’s mal ab. Vielleicht gelangen wir wieder zurück in dieses Fahrwasser und akzeptieren zwischenzeitlich, dass Frau Hennings womöglich für eine Phase lang tatsächlich nur Künstler-Spielball in den beginnenden Weltkriegsunruhen ist.)

Ich persönlich denke dennoch, ein Fokussieren auf die Hälfte der Begegnungen (mit fiktionalisierter Ausschmückung derselben) hätte dem Stoff besser getan. In einem Nachwort hätte man weitere Fakten unterbringen können …

Außerdem stoße ich mich daran, dass Autor Viñas zu manchen Personen „Lebenslauf-Exkurse“ einflicht.
Beispiel Seite 86: In drei Panels bekommen wir das Ende des Jakob van Hoddis geschildert.

So  verdienstvoll und gut gemeint diese ernste Fußnote ist, so falsch steht sie hier im Weg und blockiert den Fortgang der Handlung. Meine Meinung: Auch das hätte sich eleganter in einem Nachwort erklären lassen.

Nunja. Wir gelangen 1915 mit Hennings und Ball nach Zürich, Flucht aus dem kriegführenden Kaiserdeutschland, wo sich die beiden als Schriftsteller behaupten wollen. Kurz vor dem Verhungern besinnen sie sich und treten erneut in Varietés auf, was ihnen einen Lebensunterhalt sichert.

Der asketische Hugo Ball hält Moralpredigten und ist blind für die Nöte seiner Geliebten. Die ist weiterhin süchtig nach diversen Drogen und geht wieder anschaffen.

 

Nach diversen Engagements und Streitereien mit nicht-künstlerischen Zirkusleuten, mieten sie in der Spiegelgasse ein Lokal und nennen es „Cabaret Voltaire“. Es ist der Februar 1916.

Wieder erleben wir einen Aufgalopp der Künstlerprominenz: Der bereits oben erwähnte Hans Arp ist mit von der Partie, dazu Georges und Marcel Janco, Max Oppenheimer, Richard Huelsenbeck – und die finstere Eminenz des „Cabaret Voltaire“: Tristan Tzara.

Der plustert sich auf und zofft sich gerne mal mit Emmy Hennings, die als Sängerin und Tänzerin mit ihrem „Totentanz“ (auf Deutschland) begeistert.
Der chaotische, erste Dada-Abend hat auch einen gewissen Lenin im Publikum, was Autor Viñas und Zeichner Lázaro dazu nutzen, ein Wortgefecht Kunst gegen Politik vom Zaun zu brechen:

Das „Cabaret Voltaire“ erlebt nur wenige Aufführungen und schließt schon nach fünf Monaten wegen Unrentabilität.
(Laut dieser Graphic Novel ist der Grund, dass der Vermieter in Hennings die Hauptattraktion sieht, doch die mag nicht mehr auftreten.)

ALLES IST DADA darf sich auf die Fahne schreiben, dass es (durch Hennings‘ „Brille“) kritisch mit der Dada-Bewegung ins Gericht geht. Hennings ist zu diesem Zeitpunkt angewidert von all den Kerlen, die auf den Dada-Zug springen und mit Manifesten um sich werfen.
Sie zieht sich mit Ball nach Ascona und auf den Monte Veritá zurück.

Dieses Buch stellt in Frage, ob es jemals ein Dada gegeben hat.

 

Alles ist Dada, nichts ist Dada.

 

Schon Anfang der 1910er-Jahre gab es skurrile Kunstaktionen; die Überreste des Zürich-Dada zerstreuen sich über die Welt und gehen bald im Surrealismus auf.

Ist Dada ein Morphiumtraum, so wie das triste Leben der Emmy Hennings?

Die heiratet ihren Hugo 1920 (nach weiteren Affären), beobachtet die (womöglich homoerotische) Freundschaft ihres Gatten mit Hermann Hesse und ist die letzten 20 Jahre ihres Lebens kaum mehr existent.

ALLES IST DADA hat nur noch vier Seiten übrig für eine Künstlerin, die sich in ihren besten Jahren in der Boheme „verbrannt“ hat. Will uns dieses Buch das sagen?

Die Frau als Opfer im Haifischbecken der Männerkunst? Die ihren Körper verkaufen muss und das Ganze nur als Morphinistin überleben kann?

So sehr Emmy Hennings ihr Dasein in allen Höhen und Tiefen ausgekostet hat, bleibt mir ein merkwürdig passiver Mensch vor Augen stehen.

Oder machen dich die Drogen so fertig, Emmy?

 

Vielleicht liegt es daran, dass die Figur der Emmy mit nur einem Gesichtsausdruck gestaltet wird: diese leicht arrogante bis traurige Miene.

Wobei alle Männerfiguren genauso aussehen. ALLES IST DADA verlässt sich zu sehr auf akkurat illustrierte „Talking Heads“.

Das sind kunstvoll und schön illustrierte „Talking Heads“, keine Frage, deswegen fällt es mir auch erst zum Schluss des Buches auf. Aber so was bricht einer Graphic Novel das Genick.

Als Zeugen meiner Anklage rufe ich mal wieder in den Zeugenstand: Herrn Jan Bachmann, der in MÜHSAM – ANARCHIST IN ANFÜHRUNGSZEICHEN einen völlig anderen, die Konventionen sprengenden Weg gegangen ist.

Mühsam – Anarchist in Anführungszeichen

 

Mein Fazit ist zwiespältig:

Ich erfahre (aus Frauensicht) eine Menge über Dada und die Künstlerszene nach der Jahrhundertwende (und ihre Existenzkämpfe). Großartig ist das Auftaktkapitel, weil es eben nah an der Person Hennings bleibt und ihr allen Raum gibt.

Dann verwässert diese Graphic Novel zu einem Panoptikum der 1910er-Jahre und verliert die Protagonistin aus dem Blickfeld.

Hätten Viñas und Lázaro es gewagt, ihrer Heldin spekulativ (sei es auf Kosten der historischen Akkuratesse oder durch Auslassung von Personen) mehr Raum zu geben, hätte mich das Ergebnis glücklicher gemacht.
(Ich bin und bleibe allerdings ein Snob.)

So ist ALLES IST DADA eine immer noch interessante, zuweilen aufschlussreiche Geschichte über Kunstereignisse des frühen 20. Jahrhunderts, aber bleibt den Konventionen einer historisch erzählenden Graphic Novel verhaftet.

Blick ins Buch unter diesem Instagram-Link: