THE BLACK HOLES

Dieser komplett männerfreie Comic (es tauchen auf: sieben junge Frauen und eine Mutter) ist jedoch geschrieben und gezeichnet von einem Mann.
Vielleicht. Nicht sicher. Borja González ist zwar ein spanischer Name, aber noch keiner, der mir je begegnet ist. Borja könnte weiblich oder männlich sein.

Es lässt sich auch nicht auf die Schnelle recherchieren: Es gibt keine Webseite und keine Verlagsinfos zu Borja González, keine Netzeinträge und keine Facebookseite.

In einem kurzen Vorwort zu THE BLACK HOLES benutzt der BLACKSAD-Autor Juan Díaz Canales einmal das Possessivpronomen „sein“: „Seine Protagonisten sind drei Freundinnen, die eine Punkband gründen wollen“. Gehen wir mal davon aus, dass Borja González ein Mann sei. Ein Phantom ist er auf jeden Fall!

Viel Phantomartiges hat auch sein Comic:
Teresa begegnet am Ufer eines kleinen Sees im Jahre 1856 einem traurigen Skelett. Sie reden ein bisschen, dann verschwindet die Erscheinung.

In dieser märchenhaften Eröffnungsszene verschwimmen die Nacht, die Sterne, Blätter, Blumen und nachtaktive Schmetterlinge in einem poetischen Reigen aus Schwarz, Rot und Grün, der zunächst unerklärt bleibt.

Die Szene wechselt, wir befinden uns in einer verbauten Vorstadtsiedlung im Jahre 2016. Nur ein roter Schmetterling verbindet die Orte motivisch miteinander. Gloria macht sich auf den Weg zu einem Band-Gründungstreffen, vorbei an Laternen, Zäunen, Hauswänden, unter einem entfernten, fahl schimmernden Firmament.
Die Magie des Anfangs ist verscheucht, der Schmetterling wird in einem Karton gefangen (wo er bald sterben wird).

Christina, Laura und Gloria beraten sich im Bandkeller. Die spinnerte Laura trägt ein altertümliches Ballkleid-Kostüm.

 

Diese Gegenwart ist grau und düster; wir werden die drei Musikerinnen auch nur auf diesen nächtlichen Treffen erleben. Kein Wort davon, was diese Frauen tagsüber treiben.

Dafür springen wir jetzt zurück ins 19. Jahrhundert, wo wir die Familie von Teresa kennenlernen: die kleine Schwester Rosa und die älteren Gardenia und Margarita. Wir erleben Teresa im Gespräch mit ihrer Mutter, die sie für ihre morbiden Fantasien tadelt.

 

Alle halten Teresa für verrückt und aus der Art geschlagen; schließlich ist sie auch die einzige, die keinen Blumennamen trägt.

THE BLACK HOLES wird in der Gegenwart zum Namen der punk-beeinflussten Band, die aber nicht richtig in die Pötte kommt. Diese „Schwarzen Löcher“ können aber genauso gut für ein Dimensionsportal stehen, was sich zwischen den beiden Zeitlinien aufzutun scheint.

Teresas schräge Gedichte gelangen in Lauras Hände, die womöglich eine Wiedergängerin derselben ist. Die Geschichte wiederholt sich: Die Geschwister streiten sich, die Band streitet sich. Die weibliche Außenseiterin (Teresa/Laura) dringt mit ihren Fantasien nicht durch.

Zeig mir kein Gesicht


Befremdlich
ist, dass González seinen Figuren keine Gesichter zeichnet. Dank ihrer Frisuren und Kleidung bleiben sie (meist) erkennbar, aber natürlich verwischt der Künstler somit die Persönlichkeiten seiner Protagonistinnen:
Die Frauen werden zu einer (individuelle Lebensläufe ausblendenden) Schicksalsgemeinschaft, die sich durch Taten und Absichten definieren muss – völlig unabhängig von  ihrem Aussehen.

Zwist im Probenraum.

 

Die weitere Handlung ist schwer zu beschreiben: Szenen von damals und Szenen von heute werden kontrastiert – und wir sind selber angehalten, uns einen Sinnzusammenhang daraus zu stiften.

Sicher bin ich mir allerdings, dass THE BLACK HOLES weibliche Selbstbestimmung thematisiert. Der gesellschaftliche Gegner jedoch ist abwesend:
Das männliche Prinzip, das Patriarchat (wenn man so will), lauert in den 1850er-Jahren in Gestalt eines Debütantenballs auf sein Opfer.
Die Mutter trainiert Teresa auf Wohlerzogenheit: Die junge Frau soll ein Klavierstück vortragen, dazu ein selbst verfasstes Gedicht. Dieser Vorstellabend ist wahrscheinlich kaum mehr als eine Heiratsauktion.

Ist das Patriarchat abwesend in der Gegenwart der drei jungen Möchtegern-Musikerinnen? Scheint so, doch was hat es mit dem geheimnisvollen Eissalon „Magic Lake Ice Cream“ auf sich?
Wir sehen nicht, wer dort hinter der Theke steht und bedient, aber ist die Ausgabe phallisch anmutender Eishörnchen „rund um die Uhr“ nicht der  Versuch einer Abhängigmachung und das Erteilen von wohlgemeinten Ratschlägen nicht ein Fingerzeig auf männliche Bevormundung?!

Der Eissalon-Betreiber verfolgt die als Gespenst kostümierte Laura mit seinen Worten durch den nächtlichen Wald.

 

Oder muss man konstatieren, dass die eigenen Geschlechtsgenossinnen auf der Bremse stehen, wenn sich eine Frau über die Konventionen erheben möchte?!
Und wie lassen sich die in der Norm gefangenen Menschen zur Rebellion anstiften?!

All diese Fragestellungen lassen sich hineinlesen in THE BLACK HOLES, diesem trügerisch mühelos wirkenden Werk.

Die einzelnen Szenen dieses Comics funktionieren auf schwerelose Weise, wie eine lyrische Ballade oder ein verschrobener Experimentalfilm. Ich will auch gar nicht mehr verraten oder deuten, es geriete zu subjektiv.
(Kritik ist immer subjektiv, wir reden jetzt bereits vom Grad der Interpretation.)

Laura probt am Ufer des Sees ein Lied. An dieser Stelle schrieb Teresa 160 Jahre zuvor ihre Gedichte (die Laura gefunden hat und zu Songtexten verarbeitet). Die beiden Textkästen kommen sozusagen aus der Vergangenheit und blenden uns zurück in eine nächste Szene aus dem Jahr 1856.

 

Generell verströmt dieser stille Comic einen Feel von „Tim Burton meets Daniel Clowes“. Mit letzterem meine ich nicht den Zeichenstil von Clowes, sondern seine hypnotisch konzentrierte Figurencharakterisierung. Die Gemeinschaft der Frauen wirkt glaubwürdig, gerade weil sie sich oft seltsam zueinander verhalten, abgeschottet in ihren jeweiligen Gedankenwelten.
Tim Burton spendiert uns das märchenhaft inszenierte Setting wie auch das Thema des grüblerischen Gespenstes.

Und damit habe ich auch die Leseempfehlung gefunden, die nicht leicht zu finden ist: Wem Tim Burton und/oder Daniel Clowes zu erwartbar und/oder zu ausgelaugt geworden ist, der möge Borja González eine Chance geben.

Hier ist ein frischer Comic, der leichtfüßig, kauzig, ein wenig skurril, in klaren Bildern von weiblicher Selbstfindung erzählt. Unaufdringlich, intelligent, romantisch (auf kunsthistorischer Ebene), auch sehnsüchtig. Ein bittersüßes Werk, dessen Grafik zudem einen leisen Humor transportiert.

 

THE BLACK HOLES ist einer dieser … ich will nicht sagen Graphic Novels … einer dieser Independent-Comics, die man für sich entdecken und aufschlüsseln kann. Kein Nussknacker (im Rätselfreunde-Sinn), aber auch keine geistferne Lektüre.

Hmm. Jetzt möchte ich noch was zum Artwork von Borja Gonzálezs sagen:

Flach und flächig ist dieser Stil, arbeitet mit großen Panels und herkömmlichem Layout. Plakativ und illustrativ, nicht unähnlich einem Schattentheater. Der Zeichner/Autor zwingt uns, Distanz zu wahren – nicht nur mit der fehlenden Individualisierung der Figuren …
(Der Vergleich kommt mir, weil in der Mitte des Werks tatsächlich eine kurze Schattentheater-Szene platziert ist!)

Teresa und Rosa ziehen mit einem Nachtlicht durch die schlafende Villa. Schöne Atmosphäre, ruhiges Timing, gekonnte Figurenzeichnung.

 

Wir treffen heute unsere Freundin Biene Borja

 

Biene? Quark. Wenn schon, dann Arbeitsbiene.
Natürlich ist heutzutage niemand mehr ein Phantom. Auf Instagram posten wir wie üblich ein Blätter-Video und wer dort unter #borjagonzales schaut, kann ein Poster vom „Salón del Cómic de Zaragoza“ finden – dort ist neben dem Cover von THE BLACK HOLES ein bärt’ger Spanier abgelichtet!
Hah! Ha-ha-hab dich!