ZUSAMMENBRUCH von Pascal Rabaté

Beschaulich schaut er aus, der Zweite Weltkrieg. Auch bukolisch, in gewisser Weise.
Denn die ersten 50 Seiten ziehen wir mit der Hauptfigur über eine baumgesäumte Landstraße.
Amédée Videgrain ist abkommandiert, ein Granatloch in dieser Straße zu sichern, bis die Nachhut vorüber ist, dann versucht er, sein Regiment wieder einzuholen.

(Da dieses Buch in einem Kleinformat gedruckt ist, zeige ich gescannte Doppelseiten daraus.)

 

In der folgenden Nacht macht Videgrain erste Erfahrungen mit der Kampfbereitschaft seiner Landsleute: Als er sich unter einem Baum aufs Ohr hauen will, verscheuchen ihn drei ebenfalls dort lagernde Bauern, weil er ein Soldat ist (und im Falle des Auftauchens von Deutschen mit einer Schießerei zu rechnen wäre).

Am Morgen nimmt ihn ein deutscher Flieger aufs Korn, wirft aber nur Propaganda-Flugblätter ab: Die Franzosen sollen sich nicht auf die Engländer verlassen.
(Diese beiden Seiten zeigen schon viel von Rabatés Zeichenkunst – Sinn für Timing und Dramatik, inszeniert mit cineastischem Bildschnitt.)

Videgrains Motorrad ist hin, also tippelt er weiter und trifft auf eine nächste versprengte Einheit. Auch diese Herrschaften haben es nicht eilig, dem Krieg nachzulaufen, um daran teilzunehmen.

Man plaudert, man trinkt, man nimmt Gelegenheiten wahr.
(Diese beiden Seiten zeigen schon viel von Rabatés Wortkunst – hintersinnige Frotzeleien, ausgetauscht in lakonischen Dialogen, übertragen übrigens von Starübersetzer Ulrich Pröfrock.)

 

ZUSAMMENBRUCH wirkt so spektakulär zurückgenommen, dass ich den Zweiten zunächst für den Ersten Weltkrieg gehalten habe: die antiquiert aussehenden Uniformen der französischen Soldaten, die ländliche Stimmung fernab jeder Front oder städtischer Zivilisation, die zerbrechlich wirkenden Fahrzeuge (eines davon von einem Pferd gezogen), die nur vereinzelt auftauchenden Flugzeuge – in Filmen sah das bisher aufdringlicher und aufgeregter aus.

Man reibt sich die Augen, dass der legendäre „Blitzkrieg“ gegen Frankreich durch die Deutschen entschieden wurde, weil militärische Einheiten hier und da an strategisch richtigen Stellen gestanden haben, Betonung auf „gestanden“.

Welcher Krieg, bitte?

 

In ZUSAMMENBRUCH gibt es keine Schlachten, nicht mal Offensiven, geschweige denn einen feuernden Panzer. Halbnackte Deutsche grillen französische Schafe und veranstalten neben ihren Panzern ein Picknick. Das französische Regiment, das den Vorgang vom Wald aus beobachtet, ergibt sich kampflos: Die eigene Ausrüstung wird zerlegt und zerstört, der befehlshabende Offizier schießt sich eine Kugel in den Kopf.

 

Immer wieder sucht Autor und Zeichner Pascal Rabaté solche kontrastreichen Szenen, um mit einem Gefühl für unterschwellige Komik die Absurdität des Krieges zu illustrieren.

Eine Fallhöhe, die uns Leser auch mal in den Magen boxt:
Nach einem Fliegerangriff tauchen zersauste Flüchtlinge aus einer Wiese mit hohem Gras auf, ein surrealer Moment voll stiller Poesie. Wenige Bilder weiter jedoch liegt eine Frau in einer Blutlache, ein Hund leckt davon.
Auch das ein surrealer Moment voll stiller Poesie, der uns jedoch erschreckt.

 

Rabates Schwarzweiß-Zeichnungen rufen in mir Assoziationen zu französischen Filmklassikern hervor: Tati, Chabrol, Godard, hat da jemand Renoirs „Die große Illusion studiert?
(Im Ersten Weltkrieg gerät ein französischer Flieger in deutsche Gefangenschaft; der realistisch inszenierte Film verzichtet auf jedes Pathos, sondern widmet sich den zwischenmenschlichen Alltäglichkeiten.)

ZUSAMMENBRUCH fühlt sich schon jetzt so an, dabei gerät Amédée erst im zweiten Teil dieser Graphic Novel in deutsche Kriegsgefangenschaft.

In der die Absurditäten andauern: Auf einer eingezäunten Wiese bewachen ein paar Deutsche den französischen Haufen; stetig ergeben sich weitere Einheiten. Die Deutschen schikanieren und töten einen dunkelhäutigen Kolonialfranzosen.


Schock und Mitleid der Franzosen halten sich in Grenzen. Aber gerade diese kaltschnäuzige Berichterstattung macht ZUSAMMENBRUCH so lebendig.

Videgrain und vier anderen wird das Rumsitzen und Hungern und das Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-Gehen irgendwann zu dumm. Im Schutz der Nacht beginnen sie wieder ihre Tippelei über Landstraßen und durch Wälder.

Auf der Flucht trifft Videgrain den Senegalesen Ismael, um den er sich ein bisschen kümmert. Beide kommen eine Nacht in einem Bauernhof unter (Ismael allerdings nur in der Scheune). Ein schwarzer Mensch ist in diesen Zeiten eine Gefahr für die weißen um ihn herum.
Eine herbe Erkenntnis, auf die auch Videgrain im Verlauf von ZUSAMMENBRUCH nicht stolz sein wird.

 

Pascal Rabaté bezaubert mich in diesem Werk mit einem wunderbar getuschten Graphic-Novel-Zeichenstil, der viel Wert auf Lichtsetzung legt. An keiner Stelle wird diese Illustrationsweise langweilig. Immer ist irgendwo ein Detail kreativ schraffiert oder originell getupft.

Auch ist hervorzuheben, dass und wie der Künstler die Natur einbezieht. Bäume werfen Schatten und malen den Menschen ihre Muster auf die Haut. Die Nacht ist finster und verführt zu Heimlichkeiten. Gras und Wasser haben trotz ihrer flüchtigen grafischen Ausführung eine spürbare Qualität.

Fluchtversuch in ein Versteck unterhalb einer Brücke.

 

Die Kameraführung ist intuitiv organisch und akzentuiert das Geschehen in perfekter Weise. Hand in Hand geht dabei ein lakonischer Humor, der sich in Bild und Wort niederschlägt.
Gegen Ende scheut Rabaté auch keine Ausritte in reine Comedy (die zunächst misslungene Flucht; Videgrains Konversation mit Ismael; die beiden Frauen im Bauernhaus) – ist jedoch so klug, solche Momente zu kontern mit höchst ernsten Begebenheiten.

ZUSAMMENBRUCH  ist ein interessantes Äquivalent zur im Frühsommer erschienenen DIE REISE DES MARCEL GROB (wo es um die Schlusstage des Krieges aus Sicht elsässischer Jugendlicher geht, die in den Dienst der SS gezwungen werden).

DIE REISE DES MARCEL GROB

ZUSAMMENBRUCH verzichtet auf jegliche „Kriegs-Action“ (die MARCEL GROB noch zum zentralen Anker macht). Hier wie da konzentriert sich die Handlung auf einzelne Personen mit einem Protagonisten (Amédée Videgrain bzw. Marcel Grob).
Durch seine aktive Teilnahme am Kriegsgeschehen ist Grob mit Fragen von Schuld und Verstrickung konfrontiert.
Videgrains passive Teilnahme hinter der Front greift grundlegender die Fragen von Courage und Gewissen auf. Hierbei gelingt Rabaté ein großartiges Kunststück: Der vermeintlich aufsässige Videgrain wandelt sich mehr und mehr zum Opportunisten und Abgreifer von Gelegenheiten. Das macht auch der Schluss auf Seite 212 deutlich.

Vom offenen Ende des Werks war ich zunächst verwirrt, aber ich deute es mir wie folgt (überspringen Sie diesen Absatz, wenn Sie noch nichts verraten haben wollen):

Amédée Videgrain stürmt glücklich in seine Pariser Wohnung, um Frau und Sohn in die Arme zu schließen ­– doch die sind weg. Ein zurückgelassener Brief informiert ihn, dass Juliette und Pierre die Stadt verlassen haben, weil sie sich der deutschen Besatzung nicht fügen wollen. Sie sind aufs Land, womöglich in den Widerstand gegangen. Beschämt sitzt Videgrain im Halbdunkel, auf der Straße vor dem Haus lauert im Schatten ein deutscher Kübelwagen.

Noch ein Bonusbildchen: Videgrain und ein Kollege kommen auf der Suche nach dem Krieg an ein verlassenes Gehöft und machen dort Rast.

 

ZUSAMMENBRUCH zusammengefasst:

Diese handliche, unaufdringliche, im Regal fast unscheinbare Graphic Novel ist für mich ein Highlight des Jahres und ein heißer Tipp für Comiclektüre zum Zweiten Weltkrieg. So ehrlich und frech, witzig und berührend, clever und elegant können Comics selbst düsterste historische Episoden anpacken.
Ich verneige mich vor Pascal Rabaté.

Produktinfo und Leseprobe HIER auf der Webseite von Reprodukt.

In diesem Video blättern wir durch ZUSAMMENBRUCH: