Stadt der drei Heiligen

Heilige? Heilig ist niemand in dieser grandiosen Graphic Novel, angesiedelt im Südosten Italiens.

Obwohl es höchst katholisch zugeht: Es läuten die Kirchenglocken, am Abend gibt es Prozessionen, und die Akteure sind getauft auf die Namen der drei Schutzheiligen der Stadt: San Michele, San Nicandro und San Marciano.

3 Heilige, 3 Nächte, 3 Männer

 

Doch unseren Protagonisten geht es nicht um Nächstenliebe, Frömmigkeit und Beichte, sondern um Vorherrschaft, Autorität und Drogen. Sie sind Schutzgelderpresser statt Schutzheiliger!

Michele (gerufen „Michè“) ist ein Wrack, aber eines von beeindruckender Statur:
Der ehemalige Italienmeister im Schwergewichtsboxen ist der Lokalmatador, den alle fürchten. Michè ist ein Junkie, Säufer und Arschloch, inzwischen ganz unten angekommen – was bedeutet, dass er für seinen Konsum nicht mehr zahlen kann und seinen eigenen Dealer bedroht und beraubt.

Damit macht er sich keine Freunde. Michè ist der Mann, dessen Zeit abgelaufen ist, ein Toter auf Urlaub.

Michè wird seinem Dealer gegenüber grob.

 

Nicandro (gerufen „Nicà“) ist der Emporkömmling, der gerade die Schule hingeschmissen hat und sich ein Leben in der Kriminalität einrichtet: Nicà dealt,
er gibt den harten Typen, der sich nichts bieten lässt. Er ist flankiert von zwei loyalen Kumpels und poussiert mit Titti, der Schwester der sommersprossigen Kriminalzwillinge Tonio und Rodolfo.

Nicà hat Ehrgeiz im Elend, er ist der Mann, der nach oben will.

Nicà begleitet Titti auf dem Weg zur Schule. (Nebenbei hören wir förmlich das nervige Geknatter des Mofas.)

 

Marciano (gerufen „Marcià“) ist der Mafia-Aussteiger, der ein friedliches Bürgerleben führen will. Er war im Knast, hat sich gebessert und bestreitet seine Einkünfte mit einer Imbissbude, wo er mit Lamm-Innereien belegte Panini verkauft.

Marcià will Sicherheit für Frau und Kind und keinen Ärger mehr.

Der geschniegelte Cirù mit dem diabolischen Look wird bei Marcià vorstellig, um ihm die Zahlung eines Schutzgelds nahezulegen.

 

Aus dieser Exposition der drei Hauptfiguren (Sie ahnen es) ergeben sich im Folgenden dramatische Entwicklungen, die nichts Neues im  Krimigenre sind – aber faszinierend vor uns ausgebreitet werden.

Das liegt zum einem am Skript von Stefano Nardella, der die ultimativen Konfrontationen fein verflochten über drei Tage und Nächte aufbaut (und dabei gänzlich unprätentiös vorgeht) – zum anderen liegt es am Artwork von Vincenzo Bizzarri, der wundervolle Charaktere kreiert und eine Bleistiftkunst aufs Papier wirft, die mich auf jeder Seite hingerissen hat.

Nicht nur ist Bizzarri ein begnadeter Cartoonist, was seine Figurenzeichnungen betrifft, er beherrscht auch eine atemberaubende Lichtsetzung sowie eine fluide, kreative und organische Seitenkomposition.

(Ganz zu schweigen davon, dass mich sogar die Texturen begeistern: Ausgesuchte Seiten, vor allem der Nachtszenen, vermitteln mir einen „Büttenpapier-Effekt“.)

Kunst der Komposition und der Texturen: Selbst die Soundwörter in dieser Graphic Novel haben eine plastische, realweltliche Qualität – als könne man sie mit Händen greifen! (Und der Rauch! Der Rauch, der von der Pistole aufsteigt! Ist das geil oder was?)

 

Ich spendiere noch die nächste Seite dieser Szene, die nochmal Licht und Kamera in Perfektion zeigt. (Und erkenne ich da einen Hauch von Jacques Tardi in Bizzarris bizarrem Artwork?)

Mit diesem Showdown an der Imbissbude (mit dem ich in der Tat einen Erzählstrang verspoilert habe) ergreife ich die Gelegenheit, um mal allgemein über den Zeichenstil in Graphic Novels zu reden.
Was Bizzarri da visuell veranstaltet, ist ja in keinster Weise realistisch. Seine Gesichter sind Fratzen, karikatureske Skulpturen, die wir im Leben niemals akzeptieren würden.

Das Aussehen der Zwillinge Rodolfo und Tonio ist komisch und bedrohlich zugleich: Dieses Ensemble aus verkniffenen Augen, Reißzähnen und Blumenkohlohren erinnert an Unholde aus Volksmärchen und weckt im Leser keine Sympathien.

 

Was Bertolt Brecht ins Theater als „Verfremdungseffekt“ einführte (und dazu Schauspieler aus der Rolle treten lassen musste), das ist der Graphic Novel seit Will Eisner inhärent.

(Ganz schnell: US-Zeichner Will Eisner war ein Visionär, der schon 1941 daran glaubte, dass Comics dereinst erwachsene Stoffe präsentieren könnten. Ab 1978 machte er sich daran, diesen Vorsatz in etlichen Graphic Novels umzusetzen – und benutzte dazu einen halbkarikaturesken Zeichenstil, der vom Pseudorealismus kommerzieller Abenteuer- und Superheldencomics wegsteuerte.)

STADT DER DREI HEILIGEN präsentiert uns keine Menschen, sondern Karikaturen, in die wir jedoch (durch Bizzarris Stift geführt) Persönlichkeiten hineinlegen.
Bei Art Spiegelman stieß ich auf den Satz, dass Comiczeichnungen „wie Diagramme“ funktionieren sollten, „vereinfachte Bild-Wörter, die mehr hervorrufen, als sie zeigen.“

Das ist genau der Punkt: Je reduzierter ein Bild, desto größer ist die Interpretationsarbeit, die uns seine Deutung abverlangt.

Ein fotorealistischer Comic läuft fast wie ein Film vor uns ab.
Eine abstrahiert illustrierte Graphic Novel jedoch lässt uns langsamer lesen, lässt uns staunen und dechiffrieren, lässt uns hin und her schauen und vielleicht verharren, um Details zu studieren und grafische Umsetzungen zu begrübeln.

Das lässt Spielraum für persönliche Assoziationen, die uns den Stoff auch subjektiv näherbringen.

Ich kontrastiere den Look von STADT DER DREI HEILIGEN mal mit dem Album DIE ARCHE NEO (auf dieser Seite letztens HIER besprochen).

DIE ARCHE NEO – unterschwellig nervig?

Bei ARCHE NEO habe ich mich gestoßen am Pseudorealismus der Ausführung (und lasse durch den Artikel die Bemerkung – fast als Running Gag – laufen, wie viel schöner ich einen Graphic-Novel-Zeichenstil gefunden hätte).

Genug verfremdet?

 

Aber Sie möchten bestimmt noch was zur Handlung des vorliegenden Werks erfahren und ein paar mehr Bilder sehen. Bitteschön, einige Seiten aus dem Mittelteil:

Emporkömmling Nicà ist von Michè verletzt und gedemütigt worden, er sinnt auf Rache.

Michè hingegen (den wir auf der nächsten Seite in derselben Kameraeinstellung wie Nicà wiedertreffen, in derselben brütenden Aggression) ringt zeitgleich mit seinen inneren Dämonen.

Beachten Sie die analog inszenierte Komposition der beiden Szenen: Die schief stehenden Panels, die nun wie Dominos zu kippen beginnen – und die Katastrophe im letzten Akt ankündigen.

Während Marcià in die bewaffnete Konfrontation mit den Schutzgelderpressern geht (wir haben oben zwei Seiten daraus gesehen), soll Michè für den lokalen Mafiaboss den Ausgang eines Boxkampfs manipulieren – und Nicà verschafft sich endgültig Respekt (vor seiner Freundin Titti und deren schrägen Brüdern Rodolfo und Tonio).

Im Original lautet der Titel dieser Graphic Novel übrigens nicht STADT, sondern LAND DER DREI HEILIGEN. Das dürfen wir wohl als politischen Kommentar auf den Zustand Gesamt-Italiens verstehen.
Uns Deutschen ist so was nur im Rahmen einer Stadt zuzumuten. :- )

Die Kolorierung haben wir noch nicht erwähnt.

(Graphic Novels sind oft in Schwarzweiß gehalten, denn Farbe ist für die pure Narration meist unerheblich.)

Hier aber ist der Himmel über Apulien stets giftgelb, die Welt darunter (und ihre Bewohner) mit grau-grünem Schimmel überzogen. Die Nachtsequenzen schimmern in Goldbraun.
Das geht eigentlich gar nicht, hat mich aber nirgendwo gestört.

Die Farbgebung verleiht diesem Comic eine parallelweltliche Anmutung, was wiederum künstlerisch-verfremdende Distanz zum Dargestellten schafft.

Licht und Laberei: Drei Gangster auf dem Weg zur Schutzgeldeintreibung.

 

Heilig’s Highlight der Graphic Novel

 

Jeder Mensch schätzt einen guten Mafiafilm, einen packenden Krimi. Fabelhaft, dass es so etwas jetzt auch als Graphic Novel gibt. Natürlich ist STADT DER DREI HEILIGEN nicht der einzige gute Krimicomic, aber in seiner Machart einzigartig.

Von der Farbe über die Atmosphäre und die Typen bis hin zur bodenständigen Handlung gelingen Nardella und Bizzarri eindrucksvolle Ansichten einer italienischen Kleinstadt. Alle Figuren sind plastisch, glaubhaft und mitreißend.

Man taucht ein in diese Welt der Verlorenen, Verzweifelten und Verstrahlten.

(Und ich beneide Timur Vermes für seine pointierte Beobachtung, wie dämlich die Burschen Rodolfo und Tonio wohl sein müssen, wenn sie glauben, durch die Entführung einer Giraffe von einem Wanderzirkus Lösegeld erpressen zu können! So nachzulesen in seiner Rezension, gepostet auf SpiegelOnline, im Januar 2019.)

Am Rande bezaubert der Comic noch mit ausnehmend hübschen Votivbildchen (in diesen Post eingestreut) der drei Schutzheiligen sowie fellinesken Anflügen, was den Subplot mit der Giraffe betrifft und auch das Finale mit Feuerwerk.
(Gemeint mit dem kryptischen Adjektiv sei Filmregisseur Federico Fellini, dem hiermit womöglich eine Hommage gezollt wird.)

Verlagsinfos zu finden HIER.

Natürlich müssen wir ausgiebig in diese Grafiknovelle hineinblättern, die Seiten wende ich für Sie: