Wir müssen sofort und zuerst über das oben gezeigte Titelbild reden. Das ist konventioneller Pin-up, der für den Innenteil ein gerüttelt Maß an Schmuddel und Crime zu versprechen scheint. So kommt es aber gar nicht!
Diese allererste Seite von 180, die folgen werden, ist das Maximum an Pin-up, das wir zu sehen bekommen. SARA LONE enthält sich der Ausbeutung des weiblichen Körpers und präsentiert seine Hauptfigur im Fortgang als Frau auf der Suche nach Familie, Zugehörigkeit und Lebensaufgabe.
In vier Bänden entfaltet sich in zwar gemächlichem Tempo (allerdings mit schönem Timing!) eine kuriose Coming-of-Age-Geschichte: Joy Carruthers, eine junge Frau aus einem texanischen Küstenort, ist von Daheim ausgerissen und verdient ihr Geld als Burlesk-Tänzerin in New Orleans.
Auf der Bühne nennt sie sich „Sara Lone“. Joy ist eine Einzelgängerin, die sich mit niemandem einlässt. Als ihr Arbeitgeber Mr. Lemount sie sexuell bedrängt, schlägt sie ihn mit einer Tischlampe zu Boden, sammelt aus dem Tresor ihren ausstehenden Lohn ein und begibt sich auf die Heimreise nach Texas. Dort hat sie Familienangelegenheiten zu regeln.
Gleich zu Beginn der Serie nämlich verwaist unsere Hauptfigur, denn Saras Vater wird ermordet aufgefunden. Sara ist tatsächlich „lone“, auf sich allein gestellt, denn nach und nach sterben auch noch ihre Freunde weg.
Ich zeige die drei Auftaktseiten von SARA LONE, weil sie so schön atmosphärisch (und mit einem Hauch von Horror) daherkommen:
Sara/Joy also reist nach Hause, um den Vater zu beerdigen und sein Fischerboot zu übernehmen. Jedoch reist ihr der Ärger hinterher: Der Strip-Bar-Betreiber Lemount (von Sara bewusstlos geschlagen) wird Minuten später von einer anderen Tänzerin ermordet, die die Tat ihrer geflohenen Kollegin in die Schuhe schiebt.
Das ruft nicht nur die Polizei auf den Plan, sondern auch die Mafia, denn Lemount ist in kriminelle Geschäfte verstrickt. Zudem schaltet sich der US Secret Service in Gestalt des Agentenführers „Janus“ ein, der Sara unter seine Fittiche nimmt und Potenzial in der jungen Frau erkennt.
Janus nutzt Saras Notlage (drohende Mordanklage) aus, um sie für den Geheimdienst zu rekrutieren. Es beginnt die Wandlung der jungen Frau von der Fischereibetriebs-Erbin zu einer Agentin in Staatsdiensten. Der dritte Band („Sniper Lady“) schildert den Abschluss ihrer Ausbildung und einen ersten Einsatz auf Kuba.
Sara ist jedoch kein weiblicher James Bond, dazu bleibt das Skript zu sehr am Boden. Was in diesen Comics passiert, scheint absolut real und glaubhaft. Auf höchst unprätentiöse Weise verfolgen wir die langsame Entwicklung von Sara Lone zu Agent 7047.
Autor Erik Arnoux nimmt sich viel Zeit, um auch das Zeitgeschehen der frühen Sechzigerjahre zu beleuchten. Es gibt Verweise auf den im Süden wütenden Ku-Kux-Klan und die Bürgerrechtsbewegung, auf die Kubakrise und die völlig irre „Operation Northwoods“.
SARA LONE regt auch zur Recherche an! „Operation Northwoods“ war ein real existierender Plan der amerikanischen Geheimdienste, US-Passagierflugzeuge (mit US-Bürgern an Bord) zum Absturz zu bringen, die Schuld dafür auf die Kubaner abzuwälzen – und somit einen Kriegsgrund für einen Angriff auf Castros Kuba zu haben! Das war mir neu, ist aber faszinierend.
Band 4 kulminiert dann tatsächlich am Tage des Kennedy-Attentats. Von dem wir eine Version geliefert bekommen, die mir frisch erscheint und die bekannten Fakten auf spannende Weise bündelt und neu präsentiert.
(Und, ja, Lee Harvey Oswald kommt auch drin vor.)
Das Wort zum Artwork
Kongenial setzt der mir unbekannte Spanier David Morancho den Stoff grafisch um. Kongenial, weil er nicht nur liebevoll die Kleidung, die Fahrzeuge, die Umwelt und Stimmung dieser Zeit abbildet und einfängt. Sondern auch mit seinen Zeichnungen richtig klotzt.
Das ist formidabel illustriert, unaufgeregt inszeniert und kompetent im Erzählfluss situiert. Jede seiner Seiten ist meisterlich aufgebaut, die Konventionalität des Stils passend zum Zeitkolorit gewählt. Ich habe mich wirklich gerne in diese Kompositionen versenkt; Moranchos Spiel mit der Lichtsetzung ist sublim.
Sublim, ihr Lustigen-Taschenbuch-Leser!
Kurz: Diese durch Crowdfunding finanzierte Albenserie aus Frankreich beeindruckt mit souveräner Handlungsführung und elegantem Artwork.
Nochmal zu James Bond und dem Thriller-Genre im Allgemeinen:
Die Figur der Sara erlaubt sich keine Extravaganzen gegenüber ihren Vorgesetzten, sondern lässt sich klaglos auf ungewisse Missionen ein – selbst wenn am Ende der eigene Geheimdienst ihre Liquidierung plant.
Sara weiß zu viel, denn sie ist am Tag des Attentats auf John F. Kennedy in Dallas und erlebt das Geschehen von einem Logenplatz aus hinter den Kulissen.
Bei der Lektüre ertappte ich mich bei dem Gefühl, dass mir die Figur der Sara/Joy relativ distanziert bleibt. Wir erleben hier keinen sonderlich reflektierten, warmen Menschen. Hat denn diese Sara nicht endlich mal einen Freund?!
Und willkommen in der Genderfalle!
Hinein getappt! Diese Gedanken wären mir bei einer männlichen Figur nie gekommen. Sara ist eine distanzierte Person, die sich ihre (zumindest emotionale) Unabhängigkeit bewahren will. Allerdings macht sie sich ihre Gedanken und ist froh, eine Aufgabe zu haben.
Es sei verraten, dass das Ende dieser SARA-LONE-Tetralogie offen bleibt (und dass Autor Arnoux sagt, er habe Ideen für eine Fortsetzung im Jahre 1968). Fände ich reizvoll.
Dem All-Verlag ist es gelungen, ein Schätzchen aus aktueller französischer Produktion zu bergen und für Deutschland zu lizenzieren. Schöner Beweis dafür, dass es „da draußen“ und abseits der etablierten Verlage immer noch Comics zu entdecken gibt.
Ich fiebere ja darauf hin, dass mal jemand NOUS, LE MORTS ins Deutsche überträgt. Vier Alben des Teams, das MARSHAL BASS produziert. (Den gibt es gottlob bei Splitter.)
NOUS, LE MORTS ist ein atemberaubendes Abenteuer um Inkas, die mit Flugmaschinen ein von Zombies überranntes europäisches Mittelalter erkunden wollen.
Das ist schräg, das ist originell, das ist straff erzählt und kreativ umgesetzt. Rrrrrr.
Wenn ich mal Geld hab, werd‘ ich auch Comicverleger.
Und wie bereits Tradition seit einigen Wochen, auch hier ein Insta-Video dieser Albenreihe. Also SARA LONE, nicht die Inkazombies …