Paco Roca hat mir die Augen feucht gemacht!
Ich wollte bloß einen hübsch gemachten Comic über ein Nachkriegsschicksal in Franco-Spanien lesen, da umgarnt mich dieser Mensch so raffiniert mit Anekdoten aus dem Leben seiner Mutter, dass ich am Ende wie vom Donner gerührt dasitze.
Dabei ist es doch nur ein Lebenslauf wie der von Millionen anderer Menschen, nicht mal tragisch – lediglich sentimental und ein bisschen traurig, ein Zeugnis verpasster Gelegenheiten und unerfüllter Träume.
Roca gelingt das Bubenstück, ein Alltagsleben (das seiner Mutter Antonia) an geschickt ausgewählten und inszenierten Szenen aufzuhängen und uns plastisch auszumalen. Er kreiert ein kunstvolles Panoptikum seiner Familie im bitterarmen Nachkriegsspanien.
Dabei gelingt es ihm, sich selbst völlig zurückzunehmen, sich selbst aus der Geschichte herauszuhalten. Er muss einer dieser drei Jungs sein, die wir nur in dieser Szene sehen, er verrät aber nicht, wer von ihnen er ist.
Stattdessen erzählt Roca von der Kindheit seiner Mutter, von Antonias Hungererfahrungen nach dem Krieg im heimatlichen Valencia, vom Schwarzmarkthandel und einem Kinobesuch – vor allem aber von ihrer Prägung durch die eigene Mutter Carmen. Die ist einem strengen Katholizismus verhaftet, indoktriniert ihr Kind mit Fantasien von Himmel und Hölle und hält sie damit dumm.
Antonias freche ältere Schwester Amparín ist der Gegenpol und das schwarze Schaf der Familia. Die lebhafte junge Frau lässt sich von Männern aushalten und erkämpft sich kleine Inseln der Selbstbestimmung. Ihr weiteres Schicksal ist wechselhaft zu nennen und endet schließlich auf einer schockierenden Note, die umso ergreifender ist, weil Roca sie ganz beiläufig spielt und nicht groß „herausposaunt“.
Letztlich aber bewegen wir uns im Spanien vor 1960, im Milieu der Kleinbürger, wo niemand reich ist und sich Extravaganzen erlauben kann. Ein Tag am Strand ist schon Luxus, eine Flasche Wein für alle am Sonntag, eine fünfte Kaffeetasse im Haushalt, ein Stück Brot zwischendurch.
Was ist denn daran besonders, bitte?
Roca zeichnet plakativ und schick in einer spanischen Ligne Claire, die auf jeden Show-Effekt verzichtet, doch seine Bilder sind von einer stillen Intensität und transportieren mehr, als man auf den ersten Blick glauben mag.
Roca verwebt mit RÜCKKEHR NACH EDEN gleich mehrere Schicksale seiner Elterngeneration zu einem Flickenteppich, der jedoch an keiner Stelle zusammengestückelt wirkt.
Hier fließt sein Onkel Pipo auf gerade mal zwei Seiten ein, ein elegantes Versatzstück leisen Humors.
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass diese Familiengeschichte in keiner Weise deprimierend gestaltet wird. Diese Menschen sind arm, sie leiden Hunger, sie haben keine Güter, sie müssen dumme Arbeiten verrichten und sich in überholte Traditionen fügen – dennoch schaut Roca in ihre Herzen und vermittelt uns ihre Hoffnungen, ihre Sehnsüchte, ihre Vorstellungen von einem besseren Leben im Jenseits.
Antonia, des Künstlers Mutter, ist naiv und intellektuell beschränkt. Als Kind lebt sie in einem skurrilen Universum, als Jugendliche muss sie der Mutter im Haushalt zur Hand gehen. Ihre „Bildungsferne“ ist nicht selbstverschuldet (wie wir später in einer bewegenden Szene erfahren), doch sie richtet sich ein in ihrer kleinen Welt, die sich im Lauf ihres Lebens als inneres Exil entpuppt.
Roca nutzt einen cleveren Schlüssel, um uns diese Figur aufzuschließen: Ein Familienfoto vom Strand ist Antonias heiligster Besitz. RÜCKKEHR NACH EDEN erklärt uns in diversen Passagen, wie das Bild entstanden ist, wo Antonia das Foto aufbewahrt und natürlich, warum das Foto diese Relevanz besitzt.
Wie ein Regisseur kreist Roca immer wieder um dieses Motiv, kommt an den Strand zurück und offenbart von Mal zu Mal weitere Details – bis sich am Ende ein Gesamtbild ergibt, das über den Tag am Meer hinausweist und Antonias Leben im Ganzen einfängt.
Die kleine Fotografie enthüllt ein „bigger picture“ und damit ein Psychogramm dieser Menschen in dieser Zeit.
Obwohl die Handlung im Spanien der franquistischen Diktatur spielt, ist der Comic erstaunlich unpolitisch. Die oben gezeigte Szene mit dem Priester ist bereits die expliziteste in dieser Hinsicht.
In RÜCKKEHR NACH EDEN ist Politik kaum relevant, denn unsere Figuren haben andere Sorgen, sie sind nicht gesellschaftlich engagiert, sondern müssen sich selbst und ihre Angehörigen über die Runden bringen.
Dunkle Gestalt in dieser Graphic Novel ist der Großvater, Vicente, der in blitzlichtschnellen Szenen als egozentrisch in sich gekehrter „Rohling“ beschrieben wird. Offenbar ein Kind seiner Zeit, dessen Traumata wir uns selber noch ausmalen können, wenn wir möchten.
Hauptsächlich gestützt auf Antonia, Amparín und Mutter Carmen entwirft Roca eine Leidensgenossenschaft der Frauen.
Hier waren meine Augen schon ein bisschen feucht.
Das aber ist nur Rocas vorgetäuschter Schluss, der sehr konventionell inszenierte Abgang der Großmutter. Dann nämlich geht es noch weiter mit der Mutter.
Dazu montiert Roca sorgfältig platzierte Motive zu einem überraschend temporeichen, raffiniert konstruiertem Finale. In einem Moment, mit einem „Punch“, erwischt mich dieser Comic in der Herzgrube.
Antonias Leben wird in seiner Gesamtheit schlagartig transparent. Wasser marsch, bitte! Rooooocaaaaa!
Mir hat RÜCKKEHR NACH EDEN bewusst gemacht, welch großartiger Erzähler dieser Paco Roca ist. Informieren Sie sich über den Zeichner (der meist auch als Autor fungiert) auf Wikipedia.
Der Reprodukt-Verlag hat noch weitere Werke von Paco Roca im Angebot.
Wenn ich recht erinnere, ist DER SCHATZ DER BLACK SWAN von 2019 ziemlich verrissen worden, aber das war auch nicht sein Szenario, nicht sein Metier.
Schauen Sie nach LA CASA, KOPF IN DEN WOLKEN, DIE HEIMATLOSEN und DER WINTER DES ZEICHNERS.
Letzteres Werk ist eine sehr detaillierte Betrachtung der spanischen Comicindustrie zum Ende der 1950er-Jahre. Ich linke an unser heutiges Video noch meine Kurzbesprechung dazu im Anschluss.
Es folgen somit zwei Videos.
Und ein Filmchen für DER WINTER DES ZEICHNERS: