Perfekte Selbstanalyse: IT’S LONELY AT THE CENTRE OF THE EARTH

Zoe Thorogood heißt die erst 26-jährige Britin, die seit einiger Zeit bei Image Comics veröffentlicht und Furore macht.
Thorogood hat in der Tat ein verblüffendes Gespür für das Medium und gestaltet mit sicherem, aber wandelbaren Stil höchst persönlich gefärbte Seiten, die uns nie in Sicherheit wiegen uns stets für Überraschungen gut sind.

Autor Kieron Gillen (ONCE & FUTRE, THE WICKED + THE DIVINE) hat sie als „die Zukunft des Comics“ bezeichnet, was ihr natürlich schmeichelt, sie aber auch unter Druck setzt.

Genau damit spielt Thorogood in ihrem bisherigen Hauptwerk, der autobiografischen Graphic Novel IT’S LONELY AT THE CENTRE OF THE EARTH.

Hier sehen wir sie ihr neues Werk beenden: Sie tuscht das letzte Blatt und legt es auf den Stapel der fertigen Seiten. Dann steht sie in Gesellschaft ihrer abgespaltenen Persönlichkeiten davor. Jemand klatscht verhalten, sie kommentiert lakonisch:

Es ist der Blick der Autorin auf sich selbst, der dieses Werk so besonders macht. Thorogood reflektiert, analysiert und dokumentiert sechs Monate aus ihrem Leben. Das tut sie mit brutaler Offenheit und rücksichtsloser Ehrlichkeit, die uns erschrecken mag.

Denn Thorogood spielt in dieser Zeit immer wieder mit den Gedanken an Selbstmord. Es ist Coronazeit, sie ist vereinsamt und stürzt in eine Existenzkrise.

Betrachten Sie folgende Seite, die uns die Sachlage erklärt. Erst scherzt die Comic-Zoe mit der „vierten Wand“, dann gesteht sie unvermittelt ihre Suizidgedanken, entschuldigt sich dafür, erläutert uns ihr Projekt der Selbstbeobachtung, macht sich sogleich darüber lustig und fühlt sich narzisstisch.

Zwei der Panels fungieren als „Unterbrecher“, die Farbe weicht aus ihnen. Diese „Stopper“ ziehen eine Meta-Ebene ein, die den Comic als Produkt kennzeichnen, dessen Entstehung wir live beiwohnen.

Was natürlich nur ein Kunstgriff der Autorin ist, denn das Werk ist längst fertig, da wir es ja in Händen halten. Doch Thorogood bricht immer wieder den Erzählfluss und springt zwischen ihren Persönlichkeiten hin und her.

Es treten auf: ein strichmännchenartiger Geist, der als Stimme ihres Gewissens agiert; eine kleine Cartoon-Zoe, die noch Enthusiasmus fürs Leben aufbringt sowie eine halbrealistische Version ihrer selbst, die die dunklen Aspekte ihres Inneren verkörpert.

Mit diesen Ego-Figuren führt sie Selbstgespräche und kommuniziert so auch mit uns Leserinnen und Lesern. Und immer wieder findet Thorogood neue Bilder und Darstellungsweisen, uns ihr Innenleben zu vermitteln.

Sie sahen beispielsweise die „Kopfwürmer“, die sie plagen – ein Sinnbild für Zweifel und Nicht-Zugehörigkeit. Sie sahen das Urteil „Lügnerin“ eingeblendet in ihre Rede wie die Flammen-, nein, Kreideschrift an der Wand.
Sie sahen das übermächtig schwarze Depressions-Gespenst, wie es Thorogood einhüllt und lähmt.

Als sie online ein Interview über ihre erste Graphic Novel THE IMPENDING BLINDNESS OF BILLIE SCOTT gibt, sehen wir sie förmlich implodieren. Sie ringt mit der Frage nach Authentizität im Comic und fragmentiert ihre Persönlichkeit in ihre Figur hinein.

Hat sie sich in die Gestalt Billie geflüchtet, um ihre Leserinnen und Leser auf ihre Seite zu ziehen und sich durch Billie sympathisch zu machen?!

Thorogood sitzt viel zu Hause und macht sich zu viele Gedanken. Auch erleben wir Flashbacks in ihre Jugend: Das distanzierte Verhältnis zu ihren Eltern ist womöglich Ausdruck unausgesprochener Probleme und Geheimnisse, darunter die suizidalen Tendenzen ihrer Mutter.

Diese 190 Seiten über Depression wären unerträglich, wenn sie nicht so wundervoll kreativ und immer wieder auch selbstironisch komisch wären.

Gerne grübelt Thorogood über die Kraft der Kunst nach und die Möglichkeiten, die eigene Kreativität mit anderen zu teilen. So auch in dieser Passage:

It’s fun to be an artist

IT’S LONELY AT THE CENTRE OF THE EARTH ist nicht unbedingt eine Spaßlektüre, aber ein umwerfendes und entwaffnendes Selbstzeugnis.

Zweiflerische Künstlerporträts gibt es ja einige, aber Thorogood vollbringt das Kunststück, ihr Produkt immer wieder in Frage zu stellen und somit ihren Schaffensprozess transparent zu machen.

Im letzten Drittel beginnt sie ihren Comic komplett neu und von vorne, mit Titelbild, Frontispiz und Impressum!
Diese Version 2.0 startet konventionell mit einem Rückblick auf ihre Kindheit, in der sie sich als Außenseiterin stilisiert. Superschnell wird sie zur Comicschöpferin, die ihr erstes Werk verlegen konnte, das real existierende THE IMPENDING BLINDNESS OF BILLIE SCOTT.

Ab nun rollt IT’S LONELY AT THE CENTRE OF THE EARTH sehr viel geradliniger vor uns ab:  Thorogood präsentiert ihren Comic auf einer britischen Convention, wovor ihr graust – das erste Mal unter Fans zu sein, macht sie nervös.

Dank Unterstützung ihrer Freundin Izzy kommt sie gut über die Runden und erstattet daheim ihren abgespaltenen Persönlichkeiten Bericht: Sie ist erstaunt, dass sich die Fans mit ihr identifizieren konnten („I can be relatable“), obwohl sie sich selbst so fremd in der eigenen Haut fühlt.

Und während ihre Egos miteinander zanken und sie/sich sticheln, hat die Cartoon-Zoe einen Hoffnungsplan erarbeitet: Thorogood macht Ferien in den USA, wo sie zu einem Rendezvous mit einem Zeichner verabredet ist.

Erneut setzt Thorogood auf diesen beiden Seiten diverse Techniken des Zeichnens und Erzählens ein: verschiedene Outlines und Stilistiken, Rasterfolien zur Texturierung, ein ganzseitiges Bild in kindlicher Machart, das wiederum einen Bruch darstellt – und uns an die artifizielle Natur des Comics gemahnt.

Sie sind angemahnt!

Tatsächlich fängt Thorogood mit dem Amerikaner ein Verhältnis an, den sie als coolen Typen mit Katzenkopf porträtiert. Es gelingt ihr, sich intim auf einen anderen Menschen einzulassen, aber ihr Partner ist „mit Gepäck beladen“: Er ist teilzeit-alleinerziehend und immer noch in seine Ex verliebt.

Als sie den Kindern begegnet, fühlt sie sich deplatziert (sie hat das Gesicht des Gewissens-Strichmännchens aufgesetzt), auch wenn die Tochter sich ihr zuwendet:

Eine rührende Szene, unterschnitten mit einem Moment der Komik (die Tuba!), gleichzeitig vermittelt uns Thorogood erste Erkenntnissprünge, die es ihr am Ende des Werks erlauben, einen neuen Weg einzuschlagen.

Doch zuerst kommt es zum Abschied vom Katzenmann, der sich ihr lang und breit erklärt. Diese Passage ist so streng wie keine andere inszeniert, ein „talking head“, der Thorogood die nächste Erkenntnis spendiert – er ist genau wie sie, ein Künstler gefangen in seiner Selbstmisere.

Das ist das Leben der Comicschaffenden. Aber immerhin können die es in Bilder umsetzen.

Nach ihrer Heimkehr nach England und Gesprächen mit ihren Alter-Egos konfrontiert Thorogood das Gespenst ihrer Depression und setzt unter ihren Titel IT’S LONELY AT THE CENTRE OF THE EARTH den handschriftlichen Zusatz „but I’m trying not to live there anymore“.

Sie entzieht sich der Selbstzentriertheit und beschließt, sich wieder fürs Leben zu öffnen, illustriert auf vier prächtigen Finalseiten, von denen ich die erste noch zeigen möchte:

Zoe ist bei sich angekommen. Sie zeichnet. 

Und dieser Comic hat einen Ausweg aus sich selbst gefunden. Sechs Monate der Qual sind dokumentiert, in allen Facetten, brutal ehrlich, mit einem dramaturgischen Bogen versehen, kunstvoller kann eine Analyse nicht sein.

Ehe ich mich jetzt in meiner Analyse ihrer Analyse weiter verquatsche, empfehle ich Ihnen natürlich die Lektüre.

Mein englischsprachiges Original von IT’S LONELY AT THE CENTRE OF THE EARTH ist letztes Jahr bei Image herausgekommen, wo Thorogood schon das Werk RAIN (unter Autorenschaft von Joe Hill) nachgelegt hat. Momentan zeichnet sie einen Relaunch der Horrorserie HACK/SLASH, wenn ich das richtig sehe.

Der Comic ist unter seinem englischen Titel bereits im Frühjahr 2024 auf Deutsch bei CrossCult erschienen. Ich linke zudem die Webseite von Miss Thorogood sowie ein Instagram-Reel, auf welchem ich in den Comic hineinblättere.

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