MY FAVORITE THING IS MONSTERS, Book Two

Natürlich musste ich erst nochmal „Book One“ lesen, das war ziemlich genau sieben (!) Jahre her. Tatsächlich hat es elend lang gedauert, bis die Künstlerin Emil Ferris die Fortsetzung geliefert hat.


„Book Two“ war so lange in der Mache (und auf der Vorankündigung bei Amazon so oft um ein halbes Jahr nach hinten verschoben worden, bis es schließlich ganz verschwunden war), dass ich fast schon nicht mehr damit gerechnet hatte.

Meine Vorfreude hielt sich in Grenzen, denn als ich das Buch in Händen hielt, war auch etwas Angst dabei. Ein bislang fragmentarisches Werk, das ich 2017 als „die große American Graphic Novel“ verklärt habe, kann durch sein nachgeliefertes Finale eigentlich nur scheitern. Oder?

Wieder mit dabei sind die zahlreichen Titelbilder für Horrorcomics, die Karen in ihren Bericht montiert.

Wir werden sehen, doch zunächst ein rascher Eindruck von der Wiederlektüre des ersten Bandes, der damals dermaßen einschlug, dass man Ferris nicht nur mit etlichen Comicpreisen überschüttete, sondern sogar (wider meine Erwartung) eine deutsche Fassung auf den Markt brachte.

Panini Comics hat diese Tat gewagt; und bei meiner wiederholten englischen Lektüre hatte ich schwerstes Mitleid mit der Person, die es übersetzen musste.

MY FAVORITE THING IS MONSTERS erschlägt einen stellenweise mit ellenlangen, dichten Textpassagen (die sich im Deutschen ja noch strecken und jeden Textkasten sprengen).

Den Comic zu lesen, ist eine mühselige Angelegenheit, für die man sich wirklich Zeit nehmen muss. Hier ist kein Gehusche durch die Seiten möglich, Hauptfigur Karen lässt sich nur verstehen, wenn man ihren Gedanken und Assoziationen akribisch folgt.

Über 400 Seiten Graphic Novel wollen erarbeitet werden, auch weil es um ernste Themen geht: Kinderarmut im Chicago der 1960er-Jahre, Rassismus und Homophobie, der Mord an der Holocaust-Überlebenden Anka Silverberg, Karens Nachbarin.

Karens Leidenschaft ist das Zeichnen, mittels dessen sie sich der Welt vergewissert und mittels dessen sie die Welt auch zu verstehen sucht.

Ich war beim zweiten Lesen überrascht, wie viel Raum Ankas Prostituierten-Schicksal in der Weimarer Republik einnimmt. In Rückblenden führt uns Ferris ins Vorkriegsdeutschland und berichtet detailliert von Ankas Odyssee durch die Bordelle und von der Abhängigkeit von ihren Freiern.

Ich finde, die Handlung verläuft sich mitunter in Exkursen oder Begebenheiten am Rande, die den Erzählfluss zum Stocken bringen. Dennoch wird das Werk dadurch nicht sabotiert, denn jede Seite, die wir aufschlagen, birgt eine Überraschung:

Mal finden wir schwarzweiße Skizzen vor, mal ein farbiges Gemälde, mal hyperrealistische Darstellungen, mal expressionistische Bilder, mal doppelseitige Tableaus – jedenfalls immer eine besondere Kombination.

Und niemals verliert Ferris darüber ihre Erzählerin Karen aus dem Blick; dafür gab es zu Recht internationales Lob.

Zentrale Bedeutung in „Book Two“ erlangt die die Geschichte von Judith und Holofernes, in deren Ikonografie Karen wie üblich „eintaucht“.

Wat is denn jetzt mit „Book Two“?

Jau, kommen wir mal zur Sache. Es ist genauso dick, hat denselben Look, behält seine Manierismen bei und schließt nahtlos an Teil eins an.

Es geht zunächst um Victor, Diegos Zwillingsbruder, den Karen vergessen hatte. Denn Diego (Deeze) hat ihn in seiner Jugend bei einem „Spielunfall“ umgebracht.
Dann begegnen wir Jeffrey „The Brain“ Alvarez, dem schwarzen Aktivisten und Science-Fiction-Autoren mit der Afrofrisur. Der wird zeitweilig zum Bruderersatz für Karen und erklärt ihr politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge.
Und er neigt auch ein bisschen zu Verschwörungstheorien:

Karen verfolgt weiter ihre detektivische Arbeit und versucht, in den verschlossenen Keller ihres Mietshauses einzudringen. Sie glaubt, dort sei die Ursache für den vermeintlichen Mord an Nachbarin Anka Silverberg zu finden.

Deren Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg setzen sich mit abgehörten Tonbandaufnahmen fort, die Ankas Ankunft in einem Vernichtungslager beschreiben. Dort kann sie auf waghalsige Weise entkommen, weil sie ihre Verbindungen zum Berliner Kinderprostitutionsring ins Spiel bringt.

Neue Figur ist das Mädchen Shelley, das Toiletten nach Kleingeld plündert und zu einer neuen Freundin für Karen wird.
Bruder Deeze taucht des Öfteren ab und verschwindet tagelang, um schmutzige Jobs für den Mafioso Gronan zu erledigen – und Karen landet in der Obhut von dessen pseudo-glamouröser Frau: Mrs. Gronan hat ihre Wohnung mit Clowns dekoriert.

Welch ein Horror für unser Werwolf-Mädchen Karen!

Mach den MONSTER-Check!

„Book One“ hat seinerzeit eine Menge Erzählfäden gesponnen. Ich möchte hier und jetzt überprüfen, wie Ferris ihre Dramaturgie handhabt.

Ich sagte damals, MY FAVORITE THING IS MONSTERS präsentiere gleich fünf Graphic Novels in einer.

  1. Familientragödie
  2. Coming-of-Age-Story
  3. Kriminalfall
  4. Holocaust-Überlebenden-Drama
  5. Erweckungsbericht

Die Familientragödie wird zu Ende gebracht. Nach dem Tod der Mutter müht sich Diego/ Deeze nach Kräften um Karens Wohlergehen. Doch die muss mitansehen, dass ihr Bruder ein Krimineller ist, verstrickt in dunkle Machenschaften (Gangster Gronan!) und schuldig am Tod mehrerer geliebter Menschen.
Auch der abwesende Vater wird noch eine Rolle spielen!

Die Coming-of-Age-Story wird mit Shelley weitergesponnen. Ihr gegenüber kann sich Karen in ihren lesbischen Neigungen offenbaren, auch teilt Shelley ihre Begeisterung für Horrorfilme und das Seltsame an sich.
Das ist schön, hätte man meiner Meinung nach auch an die Figur Missy koppeln können, die diese Funktion in „Book One“ innehat. Will sagen: Ferris hätte sparsamer inszenieren können, stattdessen holt sie neue Charaktere auf die Bühne.
(Ich habe die Stirn gerunzelt, als wir mit Jeffreys Bruder Dante die Nebenfigur einer Nebenfigur kennenlernen, die wirklich überflüssig ist.)

Der Kriminalfall lautet „Wer tötete Anka Silverberg?“ und wird nicht deutlich aufgelöst. Man ahnt ein bisschen was und zwischen den Zeilen wird ein Geständnis abgelegt, aber belangt wird für diesen Todesfall niemand.
Vielmehr vermittelt uns Ferris ein Panorama der Korruption von Chicago: Gangster Gronan verfügt über eine bestochene Polizeitruppe, die Dinge unter den Teppich kehrt und die Verhältnisse nicht verkomplizieren will.

Das Holocaust-Überlebenden-Drama endet mit Ankas Flucht aus dem KZ, verquickt sich aber mit der Kriminalhandlung: Als Karen mit Franklin und Shelley endlich den ominösen Keller ihres Hauses inspiziert, offenbart sich dort die Lokalität einer Flüsterkneipe oder eines Geheimbordells, was als Echo auf Ankas Erlebnisse in ihrer Jugend gedeutet werden darf.

Anka erzählt, dass sie sechs Mädchen aus dem Vernichtungslager schleusen konnte.

Mit Erweckungsbericht meine ich die Verflechtung von Kunst und Lifestyle, die in diesen Bänden durchgehend ein Thema ist. Unsere Figuren staunen weiterhin über die klassischen Gemälde des Chicagoer Kunstmuseums und reflektieren ihre Bedeutung für die Gegenwart.

Karen sieht sich dadurch sogar motiviert zu einer krassen Handlung zum Finale von „Book Two“. Das verrate ich nicht, korrespondiert aber auch zu ihrer selbst gewählten Werwolf-Persona.

Tatsächlich könnte dieser Comic mit einem „Book Three“ weitergehen, denn das Ende ist offen. Erst war ich davon ein wenig vor den Kopf gestoßen, aber wenn wir uns in die MONSTERS-Welt versetzen und mit den Figuren leben – dann kann ich mir imaginieren, was uns Ferris noch verschweigt.

Cops und Gangster feiern im Kellerclub, auf die Szene stolpern Karen, Shelley und Franklin.

It’s lonely at the top

In „Book One“ überwog bei mir das Staunen, habe ich ausgiebig dokumentiert. In „Book Two“ saß mir eine gewisse Ungeduld im Nacken.
Mach den Sack zu, Emil!“, dachte ich auf jeder Seite und war dann irritiert, dass das Werk weiter Schleifen dreht.

Denn „Book Two“ kann den Vorgängerband nirgendwo übertreffen und kreiert für mich keine neuen „Wow-Effekte“ mehr.

Das kann ich der Autorin aber nicht vorwerfen, denn sie bleibt sich nur treu. Ich finde es wirklich fatal, dass Ferris mich durch die lange Veröffentlichungspause so ausgebremst hat.

Statt 2 x 430 Seiten in sieben Jahren hätte man 4 x 200 Seiten mit jeweils zwei Jahren Abstand herausbringen sollen … ein klarer Fall von „hätte, hätte“, wäre aber ideal gewesen, um am Ball zu bleiben.

„Book One“ steht seit sieben Jahren einsam im Comic-Olymp, jetzt tritt mit „Book Two“ die kleine Schwester hinzu und ich sach: „Wat willz du denn noch  hier“?

Schulfreund Franklin hat sein Coming-out als Françoise und berichtet seine erschütternde Backstory: Im Süden der USA hatte man den nichtbinären Jungen mit Messern verstümmelt. Danach hat ihn seine Mutter nach Chicago gebracht und ihm das Ausleben seiner Persönlichkeit erlaubt.

Aber fragen wir Menschen, deren Lektüre anders verlaufen ist.
Meine Tochter hat „Book One“ vor zwei Jahren gelesen und nun die Fortsetzung angehängt.
Meine Frau war in der glücklichen Lage, direkt beide Bände in einem Rutsch zu lesen.

Ich habe mich entschlossen, diese Diskussion aufzunehmen und stelle sie hiermit ins Netz. Wer mag, hört mal hinein und wird vielleicht staunen, wie vielfältig man dieses Werk interpretieren kann.

PS: Ich mag der Erste gewesen sein, der damals über MY FAVORITE THING IS MONSTERS geschrieben hat. Doch für den deutschsprachigen Raum entdeckt hat das Werk der Comichändler Sebastian Broskwa, der es mir auf dem Comicfestival München empfohlen hatte.

Broskwa betreibt in Wien den Laden „Pictopia“ und ist ein engagierter Comicaktivist, der auf zahlreichen Events vertreten ist, auch eigene Veranstaltungen durchführt und überhaupt die österreichische Szene zusammenzuhalten und ins Licht zu rücken scheint!

Ich wünscht, ich wär‘ in Wien – tu, felix Austria. Folgen Sie „pictopia_comics“ auf Facebook oder Instagram!

MY FAVORITE THING IS MONSTERS, Book Two, wird übrigens ebenfalls wieder auf Deutsch erscheinen. Panini arbeitet dran, Termin womöglich im Herbst.

Sehense? Auch die Deutschen mögen am liebsten Monster. Ich hingegen mag am liebsten Geblätter. Hier noch ein kurzer Eindruck aus dem Werk.