Es gibt einzelne Comichefte, die einen dauerhaft erschüttern können und nicht mehr aus dem Gedächtnis verschwinden.
Superheldenfans wissen, was ich meine. Der Tod gewisser Charaktere beispielsweise ist ein einschneidendes Ereignis.
In meiner Lektüre sind dies eine Handvoll Ausgaben aus den Serien SANDMAN oder PREACHER, von denen ich sage: „Wow, das ist groß, dazu sind Comics fähig, wunderbar.“
Ich möchte heute ein solches Heft präsentieren, und zwar das dritte aus der noch relativ frischen Serie DEPARTMENT OF TRUTH.
(Ich zeige im Folgenden das englische Original, aber alles ist auch auf Deutsch bei Splitter erschienen.)
Auch werde ich abseits von Heft 3 nicht weiter auf die Serie eingehen, denn sie ist noch nicht abgeschlossen! Mir scheint, Autor James Tynion IV. hat eine Schreibpause eingelegt, die bereits ein Jahr währt. Da muss man ein bisschen Daumen drücken, dass es mal weitergeht.
Nur so viel müssen Sie wissen (was in den beiden ersten Heften etabliert wird). Die Prämisse dieses Comics lautet: Verschwörungstheorien werden wahr, wenn genug Menschen daran glauben!
Das ist eigentlich Schwachsinn, aber es erlaubt spannende und interessante Reflexionen über unsere Gesellschaft – und damit sind wir bei Heft 3. Erste Seite:
Wir sehen das übergroße Gesicht eines Mannes, verzerrt und verfärbt, die Aufnahme ist ein Video, gepostet auf irgendeiner Plattform, auf der Verschwörungstheoretiker unterwegs sind.
Die Erzählstimme in den Textkästen gehört Mary, einer alleinerziehenden Mutter, deren Sohn Roger bei einem Amoklauf in einer Schule erschossen worden ist.
In höchst kunstvoller Verkürzung stößt uns Autor Tynion in die Gedankenwelt von Mary. Er präsentiert uns weder das „School Shooting“ selber noch die Ermittlungen danach noch Marys direkte Trauer, sondern setzt mit dem Geschehen Wochen nach der Bluttat ein.
Mary versucht noch immer, den Verlust des Sohnes zu verarbeiten, wird dabei aber behelligt vom Geschrei der Waffen-Narren, die aus diesem Amoklauf eine Verschwörung fabrizieren: Dieses Ereignis sei von der Regierung mit Schauspielern inszeniert worden, um die US- amerikanische Bevölkerung zu mehr Kontrolle bei Feuerwaffen zu bewegen.
Da haben wir noch mal die Erklärung und den Zusammenhang mit Mary:
Die Verschwörungsfanatiker veröffentlichen Bilder von ihr und Roger, um ihre Gesichter mit denen von Schauspielern abzugleichen.
Was für ein Wahnsinn!
Und für Mary beginnt ein Stalking-Terror: Die Opfermutter wird mit Mails und Anrufen belästigt, vor ihrem Haus steht nachts ein unheimlicher Mann.
Die Frau droht, daran zu zerbrechen. Ihr Vater zahlt ihr das Collegegeld für den verstorbenen Sohn aus, damit sie in bewachtes Viertel (in eine „Gated Community“) umziehen kann, wo niemand mehr zu ihr vordringt.
Doch selbst hier erreicht sie die Post:
Ungenannte Verschwörungstheoretiker haben ein Video hergestellt, das (gruselig genug) mit Rogers letzten Worten auf der Mailbox seiner Mutter anfängt, dann in ein heiteres Präsentationsvideo kippt: Mutter und Sohn lachen in die Kamera und sind stolz auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten.
Der Sohn erschießt sich pantomimisch scherzhaft selber; die Mutter berichtet, sie habe für den Job extra einen Improvisationskurs belegt.
Dieser offensichtliche Deepfake allerdings schickt Mary über die Klippe: Sie glaubt dem Wahnsinn und flüchtet sich in die Vorstellung, Roger habe tatsächlich seinen Tod vorgespielt – und lebe noch, irgendwo versteckt von der Regierung natürlich!
Mary zweifelt immer mehr am eigenen Verstand. Diese Leute haben ja Beweise, oder nicht? Ist sie zum Zeitpunkt der Tat nicht ans Telefon gegangen, weil sie auf der Arbeit war? Oder ist sie nicht ans Telefon gegangen, weil man sie instruiert hat, nicht ans Telefon zu gehen? Um die Amoklauf-Inszenierung nicht zu gefährden?
Die Trauer über den Tod des Sohnes wird abgelöst von der verzweifelten Hoffnung, die Verschwörungstheorie könnte wahr und alles nur ein böser Traum sein.
Damit wird Mary ein Fall für die Agenten des „Department of Truth“, einer geheimen Regierungsorganisation, die Verschwörungstheorien im Keim erstickt, ehe sie wahr werden. Das ist die Handlung dieser Comicreihe.
Also brechen die Agenten Cole und Ruby, Hauptfiguren der Serie, in Marys Haus ein, um dieses Video sicherzustellen und zu zerstören. Allerdings werden sie dabei von Mary gestellt:
Die beiden reden erst mit ihr und versichern sogar noch, sie hätten Rogers Leiche exhumiert, um nachzuschauen, ob er wirklich tot sei. Da Mary mit einer Waffe hantiert, wird sie von Ruby ruhiggestellt.
Die Agenten des Department of Truth verfrachten Mary ins Bett und vernichten die gefälschten Beweise der Verschwörer:
Die Theorie des inszenierten Amoklaufs durch Schauspieler ist damit zwar noch in der Welt, aber Mary hat ihren handfesten Beleg verloren (an den sie sich geklammert hat und mit dem sie Roger eventuell sogar wiederbelebt hätte).
Diese Entwicklung muss das Department verhindern. Haken bei der Sache: Es gelingt natürlich nicht.
Und das ist der Plot der gesamten Serie. Eine irre Theorie übertrumpft die nächste irre Theorie. Agenten werden gegen Agenten in Stellung gebracht. Wem kann man überhaupt glauben? Wer hat hier noch Recht? Gibt es noch eine Wahrheit?
Wer am Ende die Deutungshoheit behält und damit Geschichte schreiben kann, ist eine heikle Angelegenheit und bleibt offen!
Und so endet Kapitel 3 auf Mary, unserer Hauptfigur für dieses eine Kapitel, in dem das Department nur einen Gastauftritt hat.
Mary ist endgültig auf die Verschwörungstheorie umgeschwenkt – und kann sogar noch einen draufsetzen: Regierungsagenten haben sie bestohlen, der beste Beweis dafür, dass der Tod ihres Sohns nicht real ist!
Am Ende schreit sie so verzerrt „in die Kamera“ wie der Mann zu Beginn dieser Erzählung.
Der Stoff, aus dem die Alpträume sind
Lob an Autor Tynion, der mit diesen paar Seiten den Horror und Irrsinn von Verschwörungstheorien auf eine Weise greifbar macht, die mir Schauder über den Rücken jagt.
Wenn eine Mutter, deren Sohn bei einem Amoklauf grausam hingerichtet wurde, glauben kann, die Regierung hätte ihn als Darsteller engagiert und ihm eine neue Identität verschafft (und ihn der liebenden Mutter zuvor entfremdet und entwendet!) – wenn eine Mutter so etwas glauben kann, dann ist nichts mehr sicher oder gewiss.
Dann ist das Verständnis der Menschen untereinander nicht mehr zu retten.