JUDAS – das jüngste Testament

Vielleicht hätte man diesen Comic zum Weihnachtsgeschäft auf den Markt bringen müssen, damit Comicfans zu einem JUDAS greifen. Obwohl: Das Werk kam kurz vor Ostern 2023 raus, eigentlich der noch bessere Termin, aber es soll wie Blei in den Regalen gelegen haben. Man hielt es wohl für einen Bibelcomic, und wer will schon Bibelcomics lesen?!

Tatsächlich ist dieser Judas der Bibeljudas, genau, der mit den 30 Silberlingen, der Jesus verrät. Aber nach genau drei Seiten ist dieser Comic fertig mit dem Bibelstoff – und es beginnt die wahrlich fantastische (und man höre und staune) urchristliche, von humanstischen Idealen durchdrungene Erzählung von Autor Jeff Loveness.

Der sich fragt: Was wurde aus Judas, nachdem er zur Hölle gefahren ist? Denn der trifft dort natürlich auf Luzifer, der ihn als Bruder im Leiden begrüßt. Der Fürst der Finsternis geht Judas um den Bart und möchte ihn auf seine Seite ziehen.

Beide seien sie von Gott, dem Allmächtigen, zu Schurken auserkoren und abgestempelt worden, ohne die geringste Chance, diesen grausamen Schicksal zu entfliehen. Die Hölle nämlich sei kein Ort für Übeltäter, sondern für Gottes Sündenböcke. Judas müsse erkennen, dass Gott das wahre Böse sei.


Dieser theologische Eingangsdisput gewinnt an Brisanz, als der eben auf Golgatha verstorbene Jesus krachend in die Hölle knallt.
Hey, wer die Sünden der Welt auf sich lädt, der landet nach dem Tode ja wohl nicht im Himmel, oder?!

Päng, da isser!

Und Judas sieht sich konfrontiert mit einem neuen moralischen Dilemma. Er könnte Rache nehmen an Gott und dessen zur Hölle gestürzten Sohn in Ruhe foltern oder er könnte den Teufelskreis aus Hass, Verrat und Verwünschung durchbrechen …

Zu meiner Begeisterung über das Szenario kommt eine weitere über das Artwork des Polen Jakub Rebelka, der verwegen auf einer Klaviatur biblischer Bildmotive spielt und mit seinem fetten Strich und den expressiven Farben eine ganz eigene Ikonografie für diesen Stoff findet.

Beispielsweise Rebelkas Illustration des Zweifels, der Judas in Form schwarzer Linien umspielt und schließlich zum Verrat an Jesus bringt: Ist das ein Gewitter am Himmel? Sind das Migräneattacken? Nein, es sind satanische Einflüsse, die Judas infiltrieren und zerbrechen lassen.

Ich finde Rebelkas Stil sensationell: So illustriert in diesem Jahrhundert niemand mehr.
(Es gab da mal den Dänen Teddy Kristiansen, der in den Neunzigern bei DC Vertigo in eine ähnliche Richtung ging; auch Marc Hempel konnte eine solche Stilistik bedienen.)

Alle Menschen aber, denen ich von Rebelka vorschwärme, finden den gar nicht so toll, was mich irritiert. Und auch die Geschichte von  Autor Jeff Loveness berührt sonst niemanden.

(Der übrigens hatte mich im Jahr zuvor schon mit einer anderen Meditation über Schuld und Rache begeistert, diese aber im Kalten Krieg angesiedelt.)

Wahrscheinlich muss man katholisch sein, um von der finalen Verdrehungspointe dieser originellen Erzählung über den christlichen Glauben überwältigt zu sein. Mich hat sie bis ins Mark erschüttert und gerührt.

Und ich behaupte zum Schluss: Wäre in diesem Comic irgendwo eine Lord-of-Dreams-Traumherrscher-Figur aufgetaucht, dieses Werk hätte ein Spin-off zur SANDMAN-Serie sein können. Diese Klasse nämlich hat JUDAS, aber locker.
Niemand außer mir teilt offenbar dieses Urteil.

Wieder ist es Weihnachtszeit, deshalb mein neuer Versuch, für diesen Comic zu werben, und zwar nicht nur auf dieser Webseite, sondern auch beim ComicTalk mit Hella von Sinnen.

Was dort geschah, dürfen Sie sich im Internet anschauen: Hella und Volker Robrahn nehmen mich genüsslich in die Mangel – und es kommt zu einem tiefgreifenden Streitgespräch, an dessen Ende ich zur Hölle fahre.
Im Clip unten ab Minute 16’50!

Nennt mich Judas. :- )

Hier gibt es auch noch einen Blätter-Eindruck: