Jörg Sicher vom Bonner Comicladen berichtete mir, er habe des Öfteren Kunden vom Kauf dieses Comics abhalten müssen. Hä?
Es habe sich dabei um Eltern auf der Suche nach einem Kindercomic gehandelt. JENSEITS gehöre jedoch nicht in Kinderhände. Wie bitte?
Das ist doch ein absolut herziges Cover! Ein großäugiges, blondes Mädchen in gepunktetem Sommerkleid streift durch überdimensioniertes Blätterwerk. Sympathische Figur, freundliches Grün, märchenhafte Anmutung. Ist doch putzig. Putzig, ja?
Schauen Sie nochmal genau hin, scrollen Sie nochmal rauf. Was liegt denn da prominent in der rechten Bildhälfte? Eine große Hand. Ungut grün gefärbt und ziemlich leblos.
Blättert man ins Buch hinein, wird man weiterhin irritiert sein. Neben dem blonden Mädchen (Aurora) tummeln sich weitere, prinzessinnenartige Frauengestalten, ein Trio kleiner Balletteusen, der freche Knirps Plim, jede Menge miniatureske Kindergestalten – und natürlich Prinz Hektor, Auroras erklärter Schwarm.
Mit dem hat sie zum Auftakt ein Stelldichein bei einer unschuldigen Tasse heißer Schokolade. Kindlich ist die Fantasie in JENSEITS und kindlich ist die Herangehensweise an diese neue Welt, in welche die Figuren geworfen werden.
Denn das Date mit Hektor endet abrupt mit dem Zusammenbruch der Behausung, in der sie sich befinden: Die beiden werden (mit Dutzenden anderer, oben erwähnten Figuren) ins Freie gespült – und zwar durch Nase, Mund und Ohren eines Mädchens!
Dieses schockierende Aufsicht (übrigens das einzige Bild dieser Art) zeigt, dass unsere Charaktere aus dem Körper eines offensichtlich toten Kindes austreten. Damit werden sie wortwörtlich aus ihrem kindlichen Paradies vertrieben und landen in der rauen Wirklichkeit eines unwirtlichen Waldes.
Herr der Fliegen vs. Prinzessin Lillifee
Was auf den folgenden 80 Seiten geschieht, ist nicht weniger als der Überlebenskampf der realitätsunerfahrenen Figuren. Die drollige Schar schließt sich zu Cliquen zusammen, sucht Nahrung, trifft auf Feinde – und wird mehr und mehr dezimiert.
Ich zeige beispielhaft eine brutale Szene.
Das Artwork hingegen bleibt hell, freundlich, bunt und straft die geschilderte Brutalität Lügen.
Meine Deutung dieses Comics ist, dass nach dem Hirntod des realen Mädchens ihre „Hirngespinste“ freigesetzt werden. Als plötzlich korporeal existente Geschöpfe schlagen sie sich durch die fremde Umgebung und entwickeln sich entlang ihrer vordefinierten Eigenschaften.
Die Naiven wissen nicht, wie ihnen geschieht. Die Cleveren halten sich an die Starken. Die Verschlagenen bauen ihre Macht aus:
Serafine ist die verschüchterte Unsichere, die sich alles befehlen lässt. Stella ist die intrigante Zicke, die alle anderen terrorisiert. Jane ist die schon fast erwachsene Abenteurerin, die offenbar am besten mit den neuen Herausforderungen klar kommt.
JENSEITS aber hält sich an Aurora, das ist die Figur, der wir die meiste Zeit folgen. Aurora ist offen angelegt, sie ist lernfähig und weiß ihre Umgebung einzuschätzen. Jedenfalls besser und besser.
Autor Fabien Vehlmann bedient sich bei seiner Ausgangsidee garantiert beim „Herr der Fliegen“.
Auch wird das getötete Mädchen (ähnlich dem Schweinskopf im Roman) als von Fliegen und Maden befallener Körper skizziert.
Was das Ganze soll?
Ich weiß es nicht, es macht aber nichts. JENSEITS ist eine mitreißende und fesselnde Meditation über kindliche Vorstellungen im Konflikt mit der Umwelt.
Ich kann auch keine Auflösung anbieten. Wie kommt das tote Mädchen in den Wald? Wer hat sie umgebracht? War ihr Tod überhaupt gewaltsam?
Ein zweiter Mensch taucht später auf, im direkten Umfeld der Tat (so es eine war): Ein Mann lebt dort im Wald. Ist er ein Jäger, ein Einsiedler, ein Flüchtiger? Wir erfahren es nicht.
Es macht aber in der Tat nichts, dass wir das Jenseits (ha!) nicht völlig verstehen. Wir Leser sind als interpretative Instanz mit hineingeworfen in dieses Rätsel und stehen nicht viel besser als Aurora da.
(Allein meine lebensweltliche Erfahrung lässt mich die Mörder-Vermutung aufstellen; Aurora ist fern davon.)
JENSEITS vermittelt diesen Kitzel am Spekulieren, der manche Comics so speziell macht. Manchmal klappt dies nicht und der Comic ärgert oder frustriert mich; hier jedoch bleibe ich wach und interessiert.
Das liegt natürlich auch am sensationellen Artwork: Die feenhaften Figuren vor dem deftig inszenierten Hintergrund des Waldes ergeben eine irre Kombination – ein grafischer Teppich, der meinem Hirn unter den Synapsen weggezogen wird.
Die Illustrationen stammen von Kerascoët, und als „Kerascoët“ firmieren die beiden Zeichner Marie Pommepuy und Sébastien Cosset. Die brillieren vordergründig mit cartoonesken Kinderbuchbildern, haben aber eine massive Menge mehr drauf. Immer wieder kontrastieren sie die ephemer dargestellten Fantasiegestalten mit aquarellgezeichneter, wuchtig greifbarer Realität.
Die beiden haben noch mehr gemacht, alles wahrscheinlich höchst beachtenswert, Link dazu beim Verlag (kommt weiter unten noch).
Ergänzend fällt mir noch ein, dass ich vor zwei Jahren die ENDZEIT-Zeichnerin Olivia Vieweg nach diesem Comic fragte – und eine Antwort erhielt, aus der wir schließen dürfen, dass hier eine Inspiration vorliegt.
„JENSEITS zu lesen war für mich damals ein großes Aha-Erlebnis. Nämlich, dass jemand in Europa süße Figuren zeichnet und trotzdem extrem böse Geschichten erzählen kann.“
JENSEITS ist schon 2016 auf Deutsch erschienen (französisches Original bereits 2009). Dieser Comic ist eins dieser Werke, die auf eine Jahrhundertliste gehören! Den kann man alle paar Jahre wieder durchschmökern und erneut drüber staunen, wie kreativ und krazy Comics sein können. Ich bin dankbar für solche Würfe.
JENSEITS ist in einer Neuausgabe weiterhin bei Reprodukt lieferbar. Verlagsinfos siehe HIER.
Im traditionellen Insta-Video blättere ich durch JENSEITS und präsentiere das schröckliche Schicksal Hektors! Nicht verpassen.