INFIDEL: Horror + Rassismus = ?

„Infidel“ bedeutet, wenn ich mein Latein zusammenkratze, „ungläubig“ und wird im englischen Sprachgebrauch pejorativ (mehr Latein!) benutzt: Ein „Infidel“ ist nicht nur ein „Ungläubiger“, sondern ein „Heide“, ein antireligiös eingestellter Mensch, ein schlimmer Finger von der Gegenseite!

Ich halte den Titel INFIDEL für unglücklich gewählt, weil ich nicht weiß, welche Figur in diesem Comic damit gemeint sein soll. Hauptfigur Aisha? Die ist gläubige Muslima in einem mehrheitlich agnostischem Umfeld bzw. einer Nachbarschaft passiv-christlicher Gesinnung.
Aisha wird misstrauisch beäugt, aber keineswegs von fundamentalchristlichen Eiferern angegangen. Sie scheint mir mehr als ein ALIEN oder ein FOREIGNER begriffen zu werden, aber nicht unbedingt als INFIDEL.

Na gut, mein Problem, wenn ich den Begriff INFIDEL anders konnotiere
Jedenfalls wollte ich sagen, dass ein Titel wie HOUSE OF HATE sehr viel besser gegriffen hätte und auch Sujet und Stimmung dieses Werk wortwörtlich eleganter „verortet“ hätte.

Aus der Wand dringen Hassgespenster auf Aisha ein.

 

Doch fangen wir unsere Analyse ausnahmsweise mal ganz hinten an:

Neben einem Vorwort und einem Nachwort bietet der schöne Hardcoverband noch eine „Zusammenfassung“ auf den letzten Seiten. Hierin erklärt der Verlag die Handlung auf zwei Seiten nochmals – als sei der Redaktion bewusst, dass es nicht schaden kann, die Sache in Aufsatzform niederzuschreiben.
Kurios! Das habe ich so noch nie gesehen.
Ich war aber sehr dankbar dafür, denn es hat meine Lesart des Comics größtenteils bestätigt.

INFIDEL ist nicht überkomplex, aber ganz gewiss überfrachtet.
Man kann dem Geschehen folgen, aber es lässt Logik und Konsistenz vermissen, weil zu viele Aspekte abgedeckt sein wollen.

Dieser Comic möchte Rassismus mit Horror fusionieren und wählt dazu das Topos des Spukhauses. Warum nicht? Allerding begibt sich hier niemand in dieses Reich des Grusels, sondern alle Figuren leben bereits darin!

In angespannter Nachbarschaft (Szene ist die Lower East Side in Manhattan) wohnen Tür an Tür: Aisha mit ihrem Freund Tom und seiner Tochter Kris aus voriger Beziehung sowie seine Mutter Leslie. Des Weiteren: Aishas Jugendfreundin Medina, fünf Freunde, Bekannte, Nachbarn mit diversen afroamerikanisch-hispanisch-asiatischen Wurzeln (Ethan, Reynolds, Grace, Miguel und Sendhil), der scheue Senior Mr. Fields sowie die weiße Singlefrau Haley.

Aisha trifft Mr. Fields im Treppenhaus; der will keinen Kontakt.

 

Vier Monate zuvor hatte sich eine Tragödie im Haus ereignet: Der Mieter Ahmad Shahzad (von den anderen als „Araber“ verunglimpft) hat in seiner Wohnung Napalm-Sprengkörper hergestellt und diese im Hausflur deponiert, wo sie durch Nachbarn unabsichtlich zur Explosion gebracht wurden. Sieben Bewohner dieses Stockwerks starben wie auch der abwesende Shahzad, der später von der Polizei erschossen wurde.

Seitdem manifestieren sich aggressive Geister vor den nichtweißen Bewohnerinnen Aisha und Medina. Die Geister scheinen die im Haus umgekommenen ehemaligen Bewohner zu sein (schwer zu sagen, denn sie haben wechselnde Gestalten und treten in wechselnder Anzahl auf). Sie überfallen die Frauen und beschimpfen sie!

Und hier hakt es für mich schon: schimpfende Geister? Ordinär pöbelnde Spukgestalten? Haben die das nötig? Sind sie nicht wortlos schon schrecklich genug?

Ein Geist und/oder die hässliche Fratze des Rassismus: Medina wird mit sexistischen und rassistischen Vokabeln belegt.

 

Aisha glaubt zunächst, sie hätte Halluzinationen, doch die Attacken werden handfester. Es kommt zu einem fatalen Zusammenstoß im Treppenhaus, der Aisha ins Krankenhaus bringt. Ihre Freunde, allen voran Medina, versuchen, hinter das Unglück zu kommen und dringen auf eigene Faust ins Spukhaus ein!

(Zwischenbemerkung: Ich bitte um Verständnis, dass ich die Handlung ab jetzt in Teilen spoilern werde, um das Werk noch nachvollziehbar besprechen zu können.)

Terrorismus, wo ich mitmuss

 

Ich finde, die Atmosphäre im Mietshaus wird zu wenig beschrieben. Eine Rückblende von fünf Seiten schildert den Unmut eines weißen Paares gegenüber den nichtweißen Nachbarn (und speziell Ahmad Shahzad).

Aber was war denn bitteschön mit Mieter Ahmad Shahzad? Der war ja wirklich ein bombenbauender Terrorist! War das Misstrauen ihm gegenüber nicht sogar angebracht? Beißt sich INFIDEL hier nicht selber in den ungläubigen Schwanz?

Die Nachbarn reden schlecht über Ahmad Shahzad.

 

Aber welcher Terrorist ist so dumm, seine Bomben offen im Flur zu lagern?!
War Shahzad schon von den Geistern des Hasses besessen?
Der Comic deutet gegen Ende an, dass die Geister Ifrit-Dämonen seien, die sich vom Hass der Getöteten nähren. Das wären dann aber die toten Weißen, die als Pöbelgespenster über Aisha und Medina herfallen.
Aber wer hat sie denn heraufbeschworen? Doch wohl Ahmad Shahzad!

Vielleicht wollte Autor Pornsak Pichetshote folgendes sagen:
Diskriminierung treibt Menschen in den Terrorismus; der Terrorismus gebiert neuen Hass. Aber in Form von fluchenden Geistern?! Das ist nicht nur schräg, das ist auch banal.

Ich verstehe, dass INFIDEL ein Statement gegen Rassismus liefern will, aber in diesem Punkt verstehe ich den Plot nicht. Ich fände es cool, wenn er sagt:
Wir sind in einer gegenseitigen rassistischen Paranoia gefangen.

Weiße verdächtigen Nichtweiße, aber auch Nichtweiße verdächtigen Weiße.
Das ist auch drin in INFIDEL: Eine starke Szene schildert, wie Medina die Nachbarin Haley konfrontiert. Die hat zu Protokoll gegeben, Aisha habe Leslie in den Tod gestoßen, das habe sie mit eigenen Augen gesehen. Medina bezichtigt Haley der Lüge: Nur weil Aisha Muslima sein, schiebe ihr Haley die Schuld zu.

(Das ist rassistische Paranoia. In meinen Augen nicht besonders glaubwürdig – warum sollte Haley so gravierend lügen? –, aber die USA sind offenbar reflexartiger in solchen Zuweisungen …)

Dieser Paranoia-Aspekt ist mir ansonsten nicht genug herausgearbeitet. Geifernde Geister greifen die nichtweißen Personen dieses Stücks an. Rassismus tötet. Musste man das mit dem Horrorgenre verknüpfen?

Dass die Kombination funktionieren kann, belegt Jordan Peeles makabre Parabel „Get Out“, ein Filmerfolg aus dem Jahr 2017.

Tillmann schaut: GET OUT

Aber INFIDEL will wahrscheinlich zu viel. Muslime in Amerika, ihre Integration in die weiße Herrschaftsgesellschaft, afroamerikanische Belange, Herkunftsrivalitäten, familiäre Konflikte, Sorgerechtsfragen, Freundschaften auf die Probe gestellt, Okkultismus, ein Whodunit –  und wo ist eigentlich die Polizei, wenn man sie mal braucht?!

Zudem ist mir auch das Artwork „zu dicke“, zu aufdringlich. Der Zeichner Aaron Campbell ist ein Könner, keine Frage, aber immer wieder kulminiert INFIDEL in solch überdeutliche Sequenzen:

Der böse Geist, wir dürfen annehmen ein rassistischer, sitzt dem weißen Mann (Tom) im Nacken, er leitet ihn an, Tom erliegt den Einflüsterungen des Hasses.
Und da haben wir’s: Stellen Sie sich diese Szene OHNE den Aufhocker vor.

Ein Mann malträtiert eine (schwarze) Frau – das ist brutal, schockierend, traumatisierend.
MIT dem glutäugigen Gespenst jedoch, das Tom am Öhrchen knabbert, schleicht sich für mich ein Hauch von Albernheit ein, zumindest ist es penetrant präsentiert.
Außerdem ist es reißerisch und wirkt sich kontraproduktiv auf die Message aus. Meine Meinung.

Hätte man INFIDEL nicht geradliniger erzählen und die grafische Umsetzung dezenter gestalten können?!

So naheliegend die Kombination Rassismus-Horror scheint, so erzwungen kommt sie mir vor. Und überflüssig. Rassismus IST Horror. Punkt.
Horror mit Horror überhöhen zu wollen, ist wie ein doppelt Negatives, das sich zum Positiven wandelt. Meint: Die Chose geht nach hinten los.

(Nochmal „Get Out“:  Der Horror hat hier keine übernatürliche Komponente, was  das Konzept am Boden hält und eleganter wirken lässt.)

Medina macht sich Sorgen an Aishas Krankenbett.

 

Metaphern-Alarm: Haus des Hasses

 

Ich gestehe, dass ich es erst beim letzten Absatz auf der letzten Seite des Buchs (der erwähnten „Zusammenfassung“) geschnallt habe: „Der Käufer des Gebäudes glaubt, er könne das Haus reparieren, ohne die gesamte Fassade abzureißen.“
Natürlich! Bäm!

Das Haus repräsentiert die Gesellschaft, der Schaden daran ist der Rassismus, da hilft keine Schönheitsreparatur, da muss die Fassade völlig neu aufgebaut werden!
Facepalm-Moment! Klatsch!

Darum wiederhole ich mein Argument von oben, dass der Alternativtitel HOUSE OF HATE diesem Comic gut gestanden hätte. Er macht vorab schon die Metaphern-Ebene auf, was uns (mir zumindest!) den Zugang zum Stoff und auch das Verständnis erleichtert hätte.

So wie es ist, kommt mir die Präsentation sprunghaft und konfus vor. Und dauernd fragte ich mich bei der Lektüre: Wer ist bitte wer, wer hat was gegen wen, und weshalb überhaupt?

Da hätte man doch …

… ohne Geister und Gespenster im Haus ermitteln lassen können, was denn mit dem Terrorbomber war: Einzeltäter? Verrückt oder getrieben?
Wer im Haus hat was gewusst oder geahnt, wer hat die Annäherung gesucht?
Wer wollte die Homeland Security einschalten?
Meinetwegen hätte der rachsüchtige Geist von Ahmad Shahzad die Bewohner heimgesucht und subtil dahingehend manipuliert, sich gegeneinander an die Gurgel zu gehen.

Medina auf dem Weg, das Grauen zu konfrontieren.

 

Zum Schluss: Diese Sichtbarmachung und Personifizierung von Hass finde ich problematisch. Letztlich eine Exkulpation (wieder Latein!): Ich war vom bösen Geist besessen.

Böse Geister sind ein individuelles Phänomen. Worum es aber heute geht, ist der systemische Rassismus, der tief in den Strukturen steckt.
Jetzt wiederum könnte man meinen: Sind diese Strukturen nicht das Fundament des Hauses? Oder die besagte Fassade?
Okay, nice save, aber wieso geht hier alles so durcheinander? Überfrachtet, sag ich.

Auf meiner Instagram-Präsentation blättere ich durch INFIDEL.