Hoa Binh starrt aus dem Autofenster auf eine Skydancer-Werbepuppe, die dank ihres Gebläses wild herumzappelt. Die junge Frau aus Vietnam ist eine Gefangene in diesem Auto, in diesem Deutschland. Ihr Zuhälter erledigt Einkäufe – und sie kann nur warten, die Augen auf dieses groteske Werbedings gerichtet, das auch nicht vom Fleck kommt.
Dann macht Hoa Binh die Bekanntschaft zweier Jugendlicher, die ihre Sprache sprechen und auf dem Parkplatz gegen das Auto prallen: Tâm und Dennis sind Geschwister, die für den vietnamesischen Imbiss ihrer Eltern Küchenutensilien gekauft haben.
Hoa Binh nutzt die Begegnung, um ihnen ein Hackebeil abzukaufen. Der Handel findet über das Dachfenster statt. Tâm und Dennis hinterfragen die eigenartige Situation nicht, und Hoa Binh verrät ihnen nicht, dass sie eigentlich Hilfe braucht.
Denn sie will keine Polizei oder sonstigen Behörden ins Spiel bringen, weil sie illegal ins Land geschleust wurde und hier auch bleiben will. Allerdings hat sie jetzt eine Waffe, die sie auch gegen ihren Peiniger einsetzen wird!
Das große Zappeln
Die Figuren im 350-Seiten-Comicschmöker von Mikael Ross sind allesamt auf der Suche – nach Bestimmung, Identität, Liebe oder Lebenszweck. Auf einer metaphorischen Ebene können wir sie vergleichen mit der hilflos zuckenden Ballonpuppe.
Die Entschlossenheit Hoa Binhs steht dabei im Kontrast zu den Schülern Tâm und Dennis sowie dem Nachbarsjungen Alex.
Tâm fühlt sich alleine und sucht Kontakt zu einer Clique von Rollschuhmädchen. Ihr großer Bruder Dennis ist keine Hilfe und stilisiert sich als satanischer Metal-Rocker, der jedoch Angst vor den Avancen der älteren Marina hat.
Die ist eine taffe Motorradbraut, die den scheuen Dennis einfach abschleppen wird. Und dann ist da noch Alex, das Schlüsselkind aus der Nachbarschaft, dessen Mutter wir nie zu sehen bekommen, weil sie Not- und Schichtdienst im Krankenhaus schiebt.
Alex steuert eine Kameradrohne, mit der er seinen Vater überwacht, der die Familie verlassen hat.
Sie ahnen schon, dass Ross uns da originelle Figuren in interessanten Verhältnissen zueinander aufstellt und viel Aktualität und Sozialkritik einwebt, jedoch subtil und lakonisch inszeniert.
Drohnenpilot Alex entdeckt in einem Gebüsch nicht nur eine Tasche, die Hoa Binh gehört, sondern auch einen abgetrennten Finger. Tâm erinnert sich an die Vietnamesin auf dem Parkplatz und beginnt mit Alex und Dennis zu ermitteln – aber bitte ohne Polizei!
Das ist jetzt vielleicht nicht komplett glaubwürdig, zumal sich im großen Berlin die Figuren immer wieder vor die Füße laufen, aber hey!, es ist eine Thrillerfantasie mit Jugendlichen, die einschneidende Erfahrungen machen.
Denn es geht um den Menschenhändler und Zuhälter Boris, der Hoa Binh zur Prostitution zwingt. Die hat sich befreien können und ist nun auf der Flucht.
Tâm, Dennis und Alex spüren sie auf und stehen ihr bei, doch am Ende übernehmen stärkere Kräfte das Ruder und unsere jungen Protagonisten müssen einsehen, dass die Realität komplexer ist als ihre Vorstellung davon.
Auf einer zweiten Ebene erzählt uns Ross eine Coming-of-Age-Geschichte, die so clever mit der Kriminalhandlung verwoben ist, dass ich nicht sagen könnte, welche im Vordergrund steht.
Dennis wird von Marina tüchtig umgekrempelt, Tâm entwickelt Gefühle für Hoa Binh und Alex sucht sich eine verarmte DDR-Schauspieldiva als Ersatzmutter.
Alles Jugendleid und Pubertätsdrama wird noch konterkariert durch die lebensklugen Kommentare der Eltern von Tâm und Dennis …
Und – Himmelnocheins! – Humor hat er auch, dieser Mikael Ross.
DER VERKEHRTE HIMMEL ist ein unverschämt griffiger, spannender, flüssiger Comic, dem ich auch nicht die Attribute „Graphic Novel“ oder „Manga“ anhängen möchte.
Ja, Ross tut einen Schritt in Richtung Manga, das scheint mir jedoch eher der Ökonomie geschuldet. Das Schwarzweiß, der grobe Strich, die rasant verwaschenen Aktionssequenzen dienen dazu, dieses Werk schnell voranzutreiben.
Schlepper, Schleuser, Menschenhändler
Das größte Kunststück des Mikael Ross ist, dass er uns alle gereift aus seinem Werk entlässt.
Die Lektüre schildert nicht nur die Nöte junger Menschen auf plastische Weise, sondern präsentiert uns eine parallele Welt, in der ganz andere, existenzielle Nöte herrschen.
Ist der Himmel deshalb „verkehrt“, weil wir Deutschen nur den „Himmel über Berlin“ wahrnehmen, nicht aber die sich hereindrängenden globalen Gewitterwolken?!
(Autsch, fünf Euro in die Wortspielkasse.)
Ross zeichnet uns das „größere Bild“, die verflochtenen Mechanismen eines Kapitalismus, der die Menschen zu Waren macht.
Am Schicksal Hoa Binhs demonstriert der Autor, dass wir alle einen Preis für unsere Freiheit zahlen, gerne auf Kosten anderer.
Doch Ihr Analyse-Tilli hat jetzt Feierabend und möchte nochmals seiner Hochachtung Ausdruck geben. Ich habe nicht viel verraten, was überhaupt in diesem Comic passiert. Es ist so viel, dass es selbst meinen Rahmen sprengen würde.
Entdecken Sie das bitte selber. Legen Sie 28 Euro an und gönnen Sie sich dieses Buch aus dem avant-Verlag, das Sie an Ihre Kinder weiterreichen können.
Mit DER VERKEHRTE HIMMEL hat Ross inzwischen drei exzellente Werke hintereinander vorgelegt (wir denken an DER UMFALL und GOLDJUNGE). Das ist der Hammer – und ein Kunststück, das weltweit nicht vielen Comicschaffenden gelingt!
Man muss dazu noch betonen, das Ross ein Zeichner ist, der sich zu finanzieren weiß. Meines Wissens nach operiert er immer mit Stipendien, Arbeitsaufträgen und/oder Auslandskooperationen. So kriegt man in Deutschland doch eine Produktion hin, denn Ross macht alle zwei Jahre einen Comic.
Ein Hoch auf diesen Bajuwaren in Berlin, der eigentlich Theaterschneider und Modedesigner ist und sich erst seit zehn Jahren intensiv mit Comics beschäftigt.
Wer noch den vorherigen Streich von Mikael Ross anschauen möchte, klicke meine Analyse zu GOLDJUNGE.
Ansonsten sei auch noch in das aktuelle Werk hineingeblättert: