Diesen Comic sollten Sie als Märchen begreifen, sonst wird er Sie vielleicht irritieren.
Obwohl wir uns stets in realweltlichen Bezügen bewegen (es gibt weder Feen noch Hexen noch Fabelwesen), präsentiert man uns kein authentisches Bild der Vergangenheit.
Es sieht aus wie das royale Frankreich des 17. Jahrhunderts und es geht um Intrigen am Königshofe, doch der König heißt Leo III. (den gab es nicht) und was sich im Comic ereignet, sind formelhafte Handlungsbausteine.
Die quirlige und fantasiebegabte Serine schleicht sich ins Schloss ein und wird Gesellschafterin der Königin. Zunächst muss sie sich an die dortigen Verhältnisse gewöhnen, sich die nötigen Rituale aneignen und vor allem sich behaupten gegen die neidischen Kolleginnen, denn die Königin schart nach Laune ein Dutzend Damen um sich, die sie nach Belieben schikaniert.
Zickenkrieg bei Hofe
Serine schlägt sich gut als Neuankömmling, denn sie ist nicht auf den Mund gefallen, erfindet neue Modewörter für die höfische Society und bringt mit ihrer unkonventionellen Art frischen Wind ins Leben der Königin.
Zugleich macht sie sich einen mächtigen Feind in der Figur des „Sekretärs“, eines geschniegelten Bösewichts, von dem es heißt, er lenke in Wahrheit die Geschicke des Landes. Dieser namenlose Sekretär bleibt jedoch ein blasses Phantom: Serine vermutet, er plane das Ableben des Königs.
Die zwei in der Vorstellung gezeigten tödlicher-Unfall-Szenarien sind noch das Lustigste an MIT MANTEL UND WORTEN, ein Comic, der luftig und heiter sein will, doch sich meist in Belanglosigkeiten verliert.
Ich zeige noch die Szene, in welcher der Sekretär zudringlich wird – sie scheint mir einzig dazu zu dienen, den schlechten Charakter der Figur zu zementieren.
Denn wirklich böse ist in diesem Werk niemand, was umso merkwürdiger wird, wenn uns die dritte Hauptfigur begegnet: Léon, der Henkerslehrling!
Der ist nämlich ein echter Sonnenschein, obwohl er seine Tage im finsteren Kerker verbringt und offenbar Menschen foltert. Das wird nicht gezeigt, dafür erleben wir diese Welt als fidelen Gegenentwurf zum krampfigen Leben des Hofstaats.
Das ist irgendwie verstörend – und bekräftigt meine These vom märchenhaften Gehalt des Comics:
Jetzt sind die Figuren aufgestellt: Serine ist der Wirbelwind, der den Adel sowohl vor den Kopf stößt als auch bezaubert. Der Sekretär ist der Finsterling, der ihrem Treiben lange untätig zuschauen muss, denn Serine genießt die Gunst des Herrscherpaars.
Léon sowie die Magd Clarine und weitere Dienstkräfte sind die Verbündeten Serines, mit denen sie auf Augenhöhe verkehrt.
Exakt in der Mitte des Buchs (Seite 53 von 103) passiert ein Umschwung in der Handlung. Der ist bitter nötig, denn mein Interesse an den Drolerien bei Hofe schwand zusehends.
Ich muss verraten, was geschieht: Serine wird kaltgestellt und aus dem Schloss entfernt, woraufhin sie den Entschluss fasst, zurückzuschlagen!
Sie stürmt den Palast in der Verkleidung eines Hofnarren und treibt ihre Spielchen mit den Konventionen auf die Spitze.
Nun hat Serine eine Mission: als närrische Musketierin den König vor Intrigen und Mordversuchen zu bewahren.
MIT MANTEL UND WORTEN gewinnt an Tempo und Brisanz, bringt die Hauptfigur in knifflige Situationen, die sich zu einem dramatischen Finale zuspitzen. Es kommt zu einer „Revolution im Kleinen“, das Gute obsiegt und die Sonne versinkt golden hinterm Schloss.
Wir kommen zurück zum Anfang. Das kitschige Ende hat erneut definitiv etwas Märchenhaftes – oder sagen wir besser: Kolportagehaftes. Auf gut Deutsch, es ist ein Groschenroman.
Hamsie mal zehn Pfennig, bitte?
Dieser Comic ist der Wiedergänger der unsterblichen Romanserie „Angélique“ von Anne Golon, in einer jugendfreien Version wohlgemerkt. Sie sehen: Unkraut vergeht nicht und auch nicht die Blaupause für leichte Unterhaltung mit historischer Verklärung.
War sowieso nicht früher alles besser, zwinker?!
Man hat ja schon fast Angst, die ollen Bondage-Comics eines Georges Pichard seien fällig zur Wiederauflage. In denen geht es auch immer um verfolgte Unschuld in Form draller Blondinen, die von Finsterlingen bedrängt und missbraucht werden.
Entschuldigung, ich vergaloppiere mich mal wieder.
Mehr Infos zu MIT MANTEL UND WORTEN sowie eine Leseprobe einsehbar auf der Verlagsseite von Reprodukt.
Über die Autorin Flore Vesco heißt es dort, sie schreibe u.a. „historische Jugendromane“, naja. Mit „historisch“ wäre ich hier sehr vorsichtig, mit „Jugendroman“ kann ich leben. Allerdings habe ich mich gefragt, wer die Zielgruppe dieses Comics sein soll.
Ich mag das nicht als Stoff für Erwachsene bezeichnen, auch wenn mich das herzige Ende gerührt hat, man ist ja kein Unmensch. Aber greifen Jugendliche zu einem Comic wie MIT MANTEL UND WORTEN?! Es scheint mir schwer vorstellbar…
Wieso hat Reprodukt dieses Werk überhaupt auf den deutschen Markt gebracht? Wir freuen uns, dass Meisterübersetzer Ulrich Pröfrock gewonnen werden konnte, der die Texte zu einem Genuss macht.
Aber das Sujet kann es nicht sein. Oder begeben wir uns ins Fahrwasser gewisser royalistischer Tendenzen in der Popkultur? Ich erinnere an den monströsen Erfolg einer Serie wie „The Crown“ (ich persönlich weigere mich, den Exzessen dieser Parallelgesellschaft zuzusehen, harhar) und frage mich, ob hier eine Sucht nach Nostalgie am Werk ist.
(In Frankreich erscheinen neue Drei-Musketiere-Comics, bei schreiber&leser ist SKARBEK wiederaufgelegt worden … egal.)
Den Ausschlag zur Veröffentlichung gab wahrscheinlich das Artwork des Zeichenteams Kerascoët, das einen Ruf wie Donnerhall hat. Marie Pommepuy und Sébastien Cosset haben seit ihrer Illustration von JENSEITS die europäische Comicszene elektrisiert.
Das aber war ein Skript von Fabien Vehlmann und hatte – dank seiner ungeheuerlichen Handlung – einen ungleich gewaltigeren Punch als das neue Werk.
MIT MANTEL UND WORTEN ist einfach… ganz süß, aber nicht mehr.
Wer sehen möchte, wie die Abenteuer von Serine als Realserie aussähen, klicke auf diesen Zusammenschnitt der käsigsten Szenen aus alten „Angélique“-Filmen:
Hat schon jemand Lust auf „Fanfan der Husar“ bekommen? Sie können aber auch mit mir in den Comic hineinschauen: