Welcher Comickünstler vermischt geschmacklosen Horror mit überzeichnetem Sozialdrama zu trashigen Hommagen in expressionistischem Look?
(Und weiß mich dennoch zu faszinieren? – „Foerster! Foerster!“, ruft’s aus dem Blätterwald!)
Wer ist dieser Irre, der mit „FOERSTER“ signiert? Wikipedia sagt in einem kurzen Eintrag Folgendes:
„Philippe Foerster (* 13. August 1954 in Liège) ist ein belgischer Comiczeichner. Er studierte am Institut Saint-Luc in Brüssel und zeichnete danach einige Kurzgeschichten für das Magazin TINTIN. Seit 1979 ist er Mitarbeiter bei Marcel Gotlibs Magazin FLUIDE GLACIAL. Viele seiner Alben handeln von den Erlebnissen des charakterschwachen Ramschvertreters Theophil Schlottermann (Théodule Gouâtremou) in einer düsteren und erschreckend magischen Realität, in der alles möglich zu sein scheint, nur keine Geschichte, die wirklich gut ausgeht. Die extrem kontrastreichen Schwarzweißzeichnungen tragen stark zur an die Geschichten von H. P. Lovecrafts erinnernden Atmosphäre bei.“
Philippes fantastisches Frühwerk
An Lovecraft habe ich keinen Moment gedacht. Aber Foerster kreiert tatsächlich eine ganz persönliche Alptraumwelt aus klaustrophobisch eng gefüllten Panels, gerne verzerrten und gekippten Perspektiven, prinzipiell grotesk gedehnten Figuren und vor allem einer (Stadt-)Landschaft, die niemals einladend oder friedvoll ist, sondern stets unheilvoll und bedrohlich.
In Foersters Welt gibt es kein Glück, kein Lachen, kaum eine Atempause – denn absurder Schrecken, kombiniert mit unterschwelligem Ekel, lauert schon an der nächsten Ecke.
Handlungstechnisch kam es mir an wenigen Stellen vor, als habe Foerster die EC-Horrorcomics der Fünfzigerjahre studiert. Seine Episode um „Theo, Robert und Karlchen“ erinnert frappant an Graham Ingels‘ „The Ventriloquist’s Dummy“ (TALES FROM THE CRYPT Nr. 28 von 1952).
Auch seine skurrilen Rachegeschichten wie „Der tote Wal“ wirken, als habe Al Feldstein „Moby Dick“ adaptiert: Ein riesenhafter weißer Walfisch greift einen Seemann an Land an, um sich für seinen Tod zu rächen. Am Schluss wird der Matrose in zwei Hälften zerlegt, wie es Johnny Craig in „Split Personality“ (VAULT OF HORROR Nr. 30 von 1953) zelebriert.
Auch anderswo verspüre ich einen Nachhall der wilden Pre-Code-Horrorcomics: Ein sadistischer Ehemann mutiert zu einer Spinne, Körper zerfetzen in Einzelteile oder fusionieren zu einem bizarrem Klumpatsch, in einem Buddelschiff hausen mörderische Piraten, in „Nur Haut und Knochen“ löst sich ein rückgratloser Beamter in eine Pfütze auf – wie im Jack-Davis-Klassiker „The Jellyfish“ aus VAULT OF HORROR Nr. 19 von 1951.
Foerster geht allerdings weiter als die Moritaten der EC Comics, die im Sinne einer „poetic justice“ immer die Übeltäter rüde bestraften. In Foersters postmoralischem Universum kommt es vor, dass Kinder einen Clown steinigen, ein hungriger Violinist seinen Hund brät und verspeist, ein katholisches Internat sich als Hort von Aliens erweist, ein Drache einen Jungen enthauptet, ein Schüler seine Eltern schlachtet undsoweiter undsofort …
Schwarze Gedanken
Die Fantasie des Philippe Foerster weiß an Grenzen zu gehen. Manchmal muss ich mich zur Lektüre überwinden. Denn diese Comics sind nicht schön, sie wirken abweisend schroff, sie sind aggressiv und schmutzig, sie erkunden die Untiefen von Ekel und Perversion. Wir finden jedes Tabu gebrochen in diesen rabiaten Short Storys.
Und dennoch werde ich immer wieder belohnt mit originellen (auch kranken, jawohl) Ideen, die ich goutieren kann. Ich präsentiere als Beispiel die Geschichte „Heilig währt am längsten“.
Zwei windige Reliquienverkäufer, Ede und Ferdinand, erfahren, dass auf dem Land ein wundertätiger Knabe wirkt. Morgen findet wieder eine Prozession zum Haus auf dem Hügel statt, wo er mit seinem Vater lebt. Ede und Ferdinand beschließen, des Nachts in das Haus einzubrechen, den Jungen zu entführen – um mit dem Wunderknaben auf eigene Faust über Land zu ziehen und ihren Reibach zu machen.
Bei der Entführung und dem folgenden Finale kommt es zu mehreren „twists“, pointierten Plot-Überraschungen: Erstens finden sie den Jungen apathisch und angekettet vor, zweitens rühren die Stigmata auf der Stirn des Knaben von sehr realen Nägeln her, mit denen der Vater dem Sohn eine Dornenkrone appliziert, um ihn wundertätig scheinen zu lassen.
Drittens also fliegt der heilige Schwindel auf, doch der Vater erwischt die Kidnapper, er hält Ede und Ferdinand eine Schrotflinte unter die Nase. Viertens aber erscheint die Schwester des geschundenen Jungen, setzt den grausamen Vater außer Gefecht und bittet die Einbrecher, den Jungen in Sicherheit zu bringen.
Doch fünftens will Ede nun nicht mehr, da er erfahren hat, dass es sich um einen Fake-Heiligen handelt. Sechstens aber hat Ferdinand den Jungen aus Herzensgüte befreit und will ihn tatsächlich in Sicherheit bringen.
Siebtens taucht vor der Türe die Prozession der Gläubigen auf, die den Knaben anbeten wollen. Ede und Ferdinand nehmen die Beine in die Hand, ein katholischer Lynchmob auf ihren Fersen. Achtens übergibt der sanfte Ede dem ruppigen Ferdinand das Kind, um die Menge aufzuhalten. Ede entkommt mit seiner menschlichen Beute in einem vorbeifahrenden Bus, während Ferdinand von Katholiken verprügelt wird.
Neuntens erscheint plötzlich vom Himmel ein geflügelter Engel mit Posaune und verkündet, dass der Herrgott Ferdinand in den Märtyrerstatus erhebt. Der Engel verpasst Ferdinand einen Heiligenschein und schwirrt ab.
Zehntens protestiert der verbeulte Ferdinand gegen diese Heiligsprechung, doch endet in Diensten der katholischen Landbevölkerung angekettet an das Bett im Haus auf dem Hügel, um fortan den Platz des Knaben einzunehmen!
Und was wurde aus dem und seinem Entführer Ede? Elftens der schönste Gag zum Schluss:
Böse, böse, bitterböse. Mitunter fühlt es sich an, als habe sich Foerster das Konzept der „Schwarze Gedanken“-Onepager von Franquin (die übrigens kurz vorher ebenfalls in FLUIDE GLACIAL veröffentlicht worden waren!) zu Eigen gemacht und daraus Episodengeschichten geformt.
Kleines Album voller Schrecken
Foersters „Pinocchio“-Adaption von 1982 hat mit „Pinocchio“ (außer dem Namen) fast nichts zu tun. Sie verblüfft und verstört mit einer anderen Handlung, als wir erwarten würden:
Eine als „Zwergin“ verunglimpfte junge Frau findet unter dem Galgen eines gehenkten Puppenspielers (sic!) eine Alraune, die sie großzieht und aus dem lebenden Gehölz einen Golem formt.
Sie nennt den sprach- und empfindungslosen Holzmann „Pinocchio“ und sich selbst „Mama Gepetta“. Sie ziehen als Marionettentheater über Land, doch werden verfolgt von „den schwarzen Männern“, einem geheimnisvollen Familienclan, der auf Rache aus ist.
Eines Tages kann die Sippe Gepetta überwältigen und fesseln. Sie möchten sowohl sie als auch ihre Puppe vom Leben zum Tode befördern. In einer für Foerster sehr ungewohnten Action-Szene (die mir beinahe parodistisch in ihrer Deftigkeit vorkommt) kann der Holzmann seine Schöpferin retten und mit ihr entkommen.
Wir fühlen mit Gepetta und ihrer Kreatur, erfahren jedoch später, dass der tumbe Pinocchio tatsächlich eine Gefahr für die Gesellschaft ist (und das Ansinnen des Clans nicht unberechtigt). Denn die lebendige Puppe hat ein kleines Mädchen erwürgt, die Enkelin des Familienoberhauptes.
Der Comic handelt also von der Verlorenheit einer Frau, die ihr „Baby“ um jeden Preis beschützen will. Am Ende wird Gepetta gestellt und soll ein Opfer bringen, um noch Mitglied der Gesellschaft sein zu können. Ich verrate nicht, wie Foerster in zwei „twists“ seine Geschichte zu Ende bringt, zeige aber noch die bedrückende Sequenz, in der Pinocchio schuldig wird.
Das ist deutlich näher an Mary Shelleys Frankensteins Monster als an Carlo Collodis Marionettenerzählung. Eine ruppige, blutige, depressiv-schwelende, Foerster-fatalistische Auslegung des Topos vom menschgemachten Monster.
Leinwand des Grotesken
Foersters Körper übrigens (Sie haben es bemerkt) spotten jeder Beschreibung. Er scheint Vergnügen daran zu finden, seine Figuren durch ihre Darstellung demütigend zu entmenschlichen. Er zeichnet spargelige Hanswurste, zornige Zwerge, zerfallene Greise, verkniffene Kinder und schwammige Frauen.
Doch charakterisiert er damit auch treffend: Immer wieder begegnen wir dem katholisch zugeknöpften Franzosen mit den über die Glatze gekämmten Haarsträhnen (es gibt nichts Verzweifelteres).
Sein Vertreter Theophil Schlottermann ist die Karikatur des Klinkenputzers: die dynamische gekräuselte Tolle über den müden Augen und der Möhrennase, dazu das kecke Bärtchen überm fliehenden Kinn – ein Zerrbild des „Mannes in den besten Jahren“, der sich wahrscheinlich noch flott findet.
In „Teufel, so eine Schweinerei …“ hat er eine Affäre mit der einsamen Frau des Toilettenmanns, während dieser mit einer magischen Lanze die Toilette von Dämonen säubert! Nicht die typischste Foerster-Geschichte, aber die rührendste, die mir untergekommen ist.
Ich möchte die fünf Seiten hier komplett präsentieren. Wer mag, überfliege sie.
Wer nicht mag, scrollt bitte runter zum Schlussappell …
Ich lade die Freundinnen und Freunde des rabenschwarzen Humors ein, Foersters fantastisches Frühwerk zu entdecken. Diese Alben sind antiquarisch gut zu bekommen und zählen für mich zu den erfrischend wilden Auswüchsen des frankobelgisch schwarzen Humors, der um 1980 herum florierte.
(Man denke an Gotlib, Alexis, den frühen Boucq, Reiser, Édika, die CHARLIE-HEBDO-Crew.)
Der Zeichner Foerster ist seit Ende der Achtzigerjahre in Deutschland (fast) nicht mehr verlegt worden. Nur Carlsen präsentierte 1992 noch drei Alben seines Funnycomics (!) KAPITÄN STARBUCK.
Dabei hat der rege Belgier in Frankreich munter weiter veröffentlicht – sogar als Szenarist für Andreas (STYX) und Philippe Berthet (KOJOTEN DER PRÄRIE), letzteres auf Deutsch bei Salleck erschienen.
Ich wäre neugierig auf seinen Semifunny-Western LA FRONTIÈRE von 2010 oder seine Horrorserie GUEULE DE BOIS von 2005, übrigens eine weitere Pinocchio-Adaption!
Und es gibt noch mehr hierzulande unveröffentlichten interessanten Schwarzweiß-Stoff aus seinen FLUIDE-GLACIAL-Tagen! Rrrrr.
Naja, wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Und was wir haben, das zeige ich wie üblich in einem Instagram-Blättervideo.