Jawohl, wieder eine Graphic Novel über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Warum müssen wir denn immer wieder über die bösen Nazis reden?
Weil diese Phase der deutschen Geschichte bewegende Stoffe liefert: schockierende Schicksale lassen sich weiterhin aus den Erzählungen der Überlebenden gewinnen. Es sind grausame Geschichten, sicher, aber es sind die großen Geschichten.
Über Macht und Rausch und Schuld und Entwicklung, über Krieg und Tod und Zufall und Gnade.
Und langweilig sind die schon gar nicht.
Ein alter Herr von 83 Jahren, Marcel Grob, wird vor ein Wahrheitsfindungs-Tribunal zitiert. Dort konfrontiert ihn ein Richter mit dem Vorwurf, im Zweiten Weltkrieg bei der Waffen-SS gewesen zu sein und Gräueltaten verübt zu haben.
Monsieur Grob streitet zunächst alles ab, als man ihm jedoch die erdrückende Faktenlage präsentiert, beginnt er zu reden. In Rückblicken erleben wir, wie der junge Mann mit 17 Jahren in die SS gepresst wird, eine militärische Grundausbildung in Stralsund erhält und sodann nach Norditalien kommandiert wird.
Er erlebt das historisch verbürgte „Massaker von Marzabotto“, bei dem 770 Menschen, die Hälfte davon Frauen und Kinder, ermordet werden, befohlen vom sadistischen SS-Sturmbannführer Walter Reder. Der Vorfall gilt als schwerstes Kriegsverbrechen auf italienischem Boden.
Nach dieser „Strafaktion gegen Partisanen“ (die etwa in der Mitte des Buchs geschieht) wird Grob ins Hinterland zu den Pionieren versetzt, weil er einem SS-Oberführer als guter Fußballer aufgefallen ist. Der Sport rettet ihn vor der Front; eine Begebenheit, die in ihrer Willkürlichkeit die Unwägbarkeiten des Krieges verdeutlicht. Im Januar 1945 gerät das Bataillon in einen Hinterhalt und Grob wird verwundet.
Wir Leser laufen mit drei Elsässer Jungs durch die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs: Neben Marcel Grob werden sein Jugendfreund Antoine Guebwiller und der gleichaltrige Stanislas Müller zur SS eingezogen, der zunächst ganz wild darauf ist, an der Ostfront „Bolschewiken abzuschießen“. Was aus den beiden wird, sei hier nicht verraten.
DIE REISE DES MARCEL GROB ist mehr als eine Kriegserzählung. Sie ist auch eine Reise ins Ich. Sie handelt auch vom Verlust der Unschuld und der Ideale, von unwahrscheinlichen Freundschaften – und sogar von Anton Tschechows „Kirschgarten“.
Zeichner Sébastien Goethals inszeniert DIE REISE DES MARCEL GROB in sachlichen Bildern, die sich wie ein Fernsehspiel vor uns aufblättern. Die Schmuckfarbe changiert von gräulich-blau bis bräunlich-rosa, als grafisches Stilmittel benutzt Goethals aquarellierte Hintergründe, vor denen sich die Akteure im Vordergrund effektiv abheben. So gerät der Comic nicht allzu spröde, sondern liest sich flüssig und hält eine dramaturgische Spannung.
Autor Philippe Collin erzählt geradlinig und bettet das Schicksal des Marcel Grob clever in die Rahmenhandlung des Verhörs ein. Das verbale Duell zwischen dem unnachgiebigen Ermittler und dem aufrichtigen Greis ermöglicht die Fallhöhe zum historischen Geschehen.
Durch die rekapitulierten Ereignisse des Jahres 1944 ist der Leser gezwungen, auch die „Täterperspektive“ einzunehmen und in der Schuldfrage zu differenzieren.
Eine historische Graphic Novel ohne jeden Schnickschnack.
Inhaltlich verwandt ist DIE REISE DES MARCEL GROB mit Barbara Yelins IRMINA, die den Weg einer jungen Frau ins Mitläufertum schildert.
Der Band enthält einen Anhang von elf Seiten mit Landkarten, der Geschichte der SS sowie Infomaterial über Elsässer im Krieg, die Operationen der Waffen-SS sowie das Massaker von Marzabotto.
In Frankreich ist das Werk ein Erfolg, in Deutschland hat sich überraschenderweise Splitter die Rechte gesichert. Das erste Mal, dass sich der Verlag auf dieses Terrain wagt. In Bielefeld glaubt man an die Strahlkraft dieser Graphic Novel.
Splitters Pressereferent Max Schlegel regte den Kontakt zum Autoren an, dem ich per Mail einige Fragen stellen konnte.
Interview mit dem Autoren Philippe Collin über den Konflikt der Generationen, die Macht des Gewissens und eine Reise ins Herz der Finsternis.
Eine wahre Geschichte? Marcel Grob war Ihr Großonkel?
Oja, als Kind und Teenager war er wie ein Großvater für mich. Als ich mit 20 herausfand, dass er bei der Waffen-SS gedient hat, habe ich mit ihm gebrochen. Was ein Fehler war, denn er war ja nicht freiwillig dort.
Wie kamen Sie zu der Geschichte, hat Marcel es Ihnen erzählt? Unter welchen Umständen?
Während eines Mittagessens im Sommer 1995 unterhielt er sich mit einem Freund aus Kriegszeiten und ich schnappte auf, dass er Soldat bei den Nazis war. Er wollte mit mir aber nicht darüber sprechen, weil er dachte, ich würde die Gegebenheiten des Kriegs nicht verstehen.
Er war ein französischer Teenager, der vom Dritten Reich ‚entführt‘ wurde. Manche Franzosen dienten auch freiwillig, aber nicht Marcel und seine Freunde. Er schämte sich, obwohl er unschuldig war. Ich entdeckte diese Umstände viele Jahre nach seinem Tod, als ich sein Soldbuch fand und die Militärakten studierte.
Welche Dinge haben Sie ausgeschmückt?
Nur 20 Prozent der Geschichte habe ich dazu erfunden, 80 Prozent haben sich tatsächlich so ereignet.
Was ist das für ein Tribunal, der „Corte Veritá“, gab es das wirklich?
Das Tribunal ist so eine Erfindung von mir. Es erlaubt mir, die Handlung so aufzurollen, dass ein alter Mann vor einen Richter zitiert wird, nicht unähnlich dem Jüngsten Gericht.
Ihr Werk erinnert entfernt an den deutschen Film „Die Brücke“ von 1959. Eine Gruppe deutscher Jugendlicher wird im Krieg verheizt. Kennen Sie diesen Stoff oder gibt es ähnliche Erzählungen in Frankreich?
Oh, den kenne ich nicht, würde ich mir aber gerne ansehen! Es gibt nur wenige französische Filme über junge Menschen im Krieg; Filmschaffende sollten sich öfter an das Thema wagen.
Noch eine blöde Kennen-Sie-Frage: Kennen Sie Barbara Yelins Graphic Novel „Irmina“? Die Geschichte einer jungen Frau, die durch die Umstände zur Mitläuferin wird?
Das bestelle ich mir!
Weshalb haben Sie Ihren Comic „Reise“ (Voyage) genannt? Dürfen wir vermuten, dass es sich auch um eine Reise ins Ich handelt?
Korrekt, der Titel spielt mit zwei Bedeutungen: eine Reise in die Finsternis der Nazi-Barbarei sowie auch eine Reise in Marcels Erinnerungen, in der das Leben noch einmal an ihm vorüberzieht.
Wozu war Ihnen die dritte Zeitebene (die äußerste Klammer mit dem Sterben von Marcel) noch wichtig?
Sie soll uns anzeigen, dass der Prozess, das Tribunal nicht real ist. Marcel zitiert sich selber vor ein imaginäres Gericht, um im Sterben sein Gewissen zu erleichtern.
Also ist das Verhör nur die Fantasie des sterbenden Marcel? Auf den letzten Seiten sieht es tatsächlich so aus, als nämlich der Tod-ähnliche ‚Gerichtsdiener‘ ihn aus dem Raum geleitet …
Exakt, in seiner Todesnacht durchlebt Marcel dieses fantasierte Verhör. Der Richter, der ihn verhört, bin in gewisser Weise ich. Er geht Marcel genau so streng an wie ich, als ich 20 war. Zugleich demonstriere ich, wie vorschnell wir oft urteilen.
DIE REISE DES MARCEL GROB ist im Herbst 2018 als Album bei Futuropolis erschienen. Was können Sie uns zu den Reaktionen in Frankreich sagen?
In Frankreich weiß man wenig über diese Jugendlichen, die in die deutsche Wehrmacht gepresst wurden. Es ist ein wuchtiger Stoff, der viele Menschen angesprochen hat. Für die Überlebenden dieser Zeit war es übrigens höchst emotional, ihre eigene Geschichte auf diese Weise präsentiert zu bekommen.
Wir haben an die 100.000 Bücher verkauft. Es ist der Wahnsinn, einfach unglaublich.