Die „Ligne claire“ macht Ernst mit RAMPOKAN

Zwei junge Niederländer (Johan Knevel und Frits de Zwart) kommen im Herbst 1946 nach Java, Indonesien. Sie sind Kolonialsoldaten und sollen vor Ort gegen „Terroristen“ durchgreifen. Ihnen entgegen steht die Bevölkerung Indonesiens, die den Kampf für ihre Unabhängigkeit aufgenommen hat.

Die beiden Männer werden kaserniert und rücken als Strafbataillon zu Einsätzen in den Dschungel aus. Vor allem Johan ist befremdet von der Situation, denn er hat sich die Rückkehr in das Land seiner Kindheit völlig anders und verklärend vorgestellt.
Aufgewachsen auf Java, schwelgt der junge Mann von der Exotik und Fürsorge seines damaligen Kindermädchens Ninih.
Auf der Suche nach dieser Frau (und generell nach dem verlorenen Paradies vergangener Kolonialherrlichkeit) gerät Johan zwischen die Fronten und in Gefahr. Denn das Land ist zerrissen, alte Bindungen gelten nicht mehr und jeden Moment kann sich das Leben dramatisch ändern.

Die Dinge verkomplizieren sich gleich zu Anfang, als Johan noch auf der Überfahrt einen Streit mit dem niederländischen Kommunisten Erik Verhagen vom Zaun bricht – und diesen in einer nächtlichen Rangelei über Bord gehen lässt. Er verschweigt den tödlichen Zwischenfall, Verhagen gilt fortan als vermisst.
Doch Johan bewahrt seine Papiere auf und wird im Verlauf der Geschichte noch Verhagens Identität annehmen, weil er von seiner Truppe getrennt wird und in eine kommunistische Unterstützungseinheit der Unabhängigkeitskämpfer gerät.

Zuvor aber geraten Frits (der Dunkelhaarige) und Johan (mit der Schaufel) in einen Hinterhalt der Freiheitskämpfer und überleben nur um Haaresbreite:

RAMPOKAN ist ein ansprechender, dichter, außergewöhnlicher Abenteuercomic vor historisch akkuratem Hintergrund.

Der Zeichner ist bei diesem Projekt zugleich der Autor: Peter van Dongen verarbeitet in RAMPOKAN Einflüsse aus der eigenen Familiengeschichte. Seine Mutter überlebte als Kind den Beschuss der Hafenstadt Makassar durch die niederländische Marine. Die Erinnerung an ihre Erzählungen veranlasste van Dongen, in Recherchen zur niederländischen Kolonialgeschichte einzutauchen.

Nach zeitweiser Besetzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg erklärte sich Java 1945 unabhängig, hatte aber nicht mit dem Widerstand der alten Kolonialherren gerechnet, denn die Niederlande wollten sich diesen Teil Indonesiens wieder einverleiben. Es folgte ein vierjähriger blutiger Freiheitskampf, der als Folie für den Comic dient und in den Johan Knevel als Protagonist verwickelt wird.

Auf der oben gezeigten Seite erleben wir Johan in seiner Tarnung als Erik, unterwegs im Dschungel mit dem kommunistischen Agenten Burt Dekker. Der hatte Johan halbtot aufgelesen, als dieser in einer Sturzflut des Monsunregens verletzt worden war.

Zuvor nämlich hatte sich Johan auf der Suche nach Ninih von seiner Einheit entfernt und war auf eigene Faust in ein Dorf eingedrungen. Dort wäre er beinahe in kämpferische Auseinandersetzung mit den Bewohnern geraten, doch Lisa, die Haushälterin und Geliebte seines Vorgesetzten Sergeant Jonker, half ihm aus der Patsche. Anschließend waren beide in den Monsun geraten und für eine Nacht in der Wildnis gestrandet.

Komplex verwoben

Sie ahnen vielleicht aufgrund meiner verschlungenen Beschreibungen, dass RAMPOKAN zwar linear nach vorne erzählt, aber viel Interaktion bietet sowie auf zwei Ebenen agiert:

Da ist zum einen Hauptfigur Johan, der wir folgen und die auch in blauen Textkästen zu uns spricht. Interessanterweise wird Johan nicht sympathisch geschildert. Das liegt nicht nur an seiner feigen Vertuschungsstrategie, sondern auch an seinem herrischen Gebaren und seiner verbissenen Suche nach einer tröstlichen Gegenwirklichkeit. Bestenfalls ist dieser Mensch in seiner Verzweiflung greifbar.

Übrigens sind alle weiteren Charaktere ziemliche Kotzbrocken: Die Militärs Sergeant Jonker und Major van Daalen jagen und foltern Einheimische, auf die sie natürlich herabschauen. Frits de Zwart, Johans Kumpel, lässt sich mit einem chinesischen Händler auf Schwarzmarkgeschäfte ein und verscheuert Bestände aus dem Nachschub.
Dazu angestiftet hat ihn der Journalist Bennie Riebeek, der sich als Moskaus Mann auf Java entpuppt: Burt Dekker. Welche Verwicklungen das nach sich zieht, führt jetzt zu weit und sei nicht verraten.
Einziger menschlicher Lichtblick ist die Figur der Lisa, die sich in Kollaboration mit den Besatzern ein besseres Leben erhofft.

Autor van Dongen hat alle seine Figuren gut im Griff und weiß sie auch zu bedienen. Das ist nicht selbstverständlich und ich habe gestaunt, wie intelligent, facettenreich und spannend die Handlung inszeniert ist. Nirgendwo kommt Leerlauf oder Langeweile auf; RAMPOKAN entfaltet sich immer weiter und steuert folgerichtig auf ein dramatisches Finale zu.

Major van Daalen hält seine Rede vor den neuen Rekruten Frits und Johan – und stellt dabei Lisa vor:

Ich erwähnte eine zweite Ebene, die van Dongen über die Handlung stülpt: Eine allwissende Erzählstimme (markiert durch schwarze Textkästen) eröffnet und schließt das Skript, nimmt uns bei der Hand und führt uns durch das Geschehen wie durch ein Theaterstück.
Diese Instanz parallelisiert die Handlung mit dem indonesischen Mythos vom „Rampokan“, der rituellen Tigerjagd. Kann der Tiger seinen Häschern entkommen oder sie gar verletzen, ist das ein böses Omen für die Zukunft.

Immer wieder schneidet der Zeichner „Flashbacks“ solcher Szenen in den Comic hinein. Symbolhaft überhöht van Dongen somit etwa den Freiheitskampf der Indonesier oder die Vertreibung von Agenten oder Schwarzmarkthändlern, wie hier Herrn Ong (der Militärbestände hortet und teuer an die Aufständischen verhökert).
Auf der unteren Bildzeile sehen wir das Tigerritual, bei dem sich der Priester dem Raubtier entgegenstellt.

Mach doch mal die Linie klar!

Peter van Dongen gestaltet eine sagenhaft schöne „Ligne claire“! Ich war bislang der Auffassung, sein Zeitgenosse Eric Heuvel sei der moderne Meister dieser Stilrichtung, aber mit van Dongen entdecke ich einen mindestens ebenbürtigen Künstler.

Ich möchte darauf hinweisen, dass seine Kameraarbeit und Schnitttechnik der Ligne claire eine frische Dynamik verleihen: In folgender Szene erleben wir den Beschuss der niederländischen Kaserne (und dass Sergeant Jonker auch menschliche Regungen kennt, denn er denkt zuerst an Lisa und seine Kinder).

Zuvor noch eine historische Anmerkung: Wer hier schießt, ist tatsächlich die indonesische Marine, die 1950 die letzten Europäer aus der Stadt treiben wollte – und dabei in Kauf nahm, ihre eigene Bevölkerung zu treffen.

RAMPOKAN war 1998,  dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Seiten, der erste Comic, der sich diesem düsteren Kapitel der niederländischen Geschichte widmete. Insgesamt hat der Zeichner 13 Jahre lang an diesem Werk gesessen.
(Siehe dazu ein lesenswertes Interview auf Englisch, wo auch Auskunft gegeben wird, wie der Comic heute in Indonesien rezipiert wird.)

Zum Schluss verweise ich auf die Verlagsseite bei avant, wo noch weitere Seiten als Leseprobe einsehbar sind.
Wer übrigens mehr Artwork von Peter van Dongen genießen möchte, kann sich bei Carlsen mit drei BLAKE UND MORTIMER-Alben eindecken!

Und ehe uns alle der Tiger holt, habe ich in den Comic hineingeblättert: