Eine himmlische Wiederentdeckung ist Michael Meiers parodistische Höllenfahrt nach Motiven aus Dantes „Göttlicher Komödie“ bzw. der besten Teile daraus, natürlich dem „Inferno“!
Autor und Zeichner Meier nahm sich die 720 Jahre alte literarische Vorlage zur Brust, um sie 2010–11 in der „Frankfurter Rundschau“ zu täglichen Ministrips zu verwursten.
Ein Reisender (Dante) wird vom „Jenseitsführer“, dem verstorbenen römischen Dichter Vergil, durch die neun Kreise der Hölle zurück an die Erdoberfläche geleitet. Unterwegs begegnen ihnen Gestalten der griechischen Mythologie sowie diverse Dämonen und etliche verdammte Seelen, die die unterschiedlichsten Höllenqualen erleiden.
Das ist im Grunde nichts als eine Geisterbahnfahrt ohne Dramaturgie, dennoch bietet die Handlung bis heute wohlige Schauer-Schauwerte.
Ich habe mich gewundert, warum Meier diesen Stoff aufgreift, aber wer beruflich „Das große Bad Hersfeld-Wimmelbuch“ gestalten musste, ist wahrscheinlich schon durch die Hölle gegangen und war sowieso nah dran an infernalischen Themen …
(Harhar, Info und Leseprobe zu finden auf Michael Meiers Homepage.)
Die höchst amüsante Comicversion präsentiert uns einen Hipster-Dante mit sarkastischem Humor, Vergil in Gestalt eines roten Schakals, Satan als monströsen Feinschmecker und jede Menge reißzähnebleckender Dämonen, die sich gerne auch mal untereinander piesacken.
Die durch die Hölle gehen
Ein wenig unklar bleibt mir, wer dieser Dante eigentlich ist, was er so macht und wieso er in diesen Schlamassel geraten ist. Er hat sich offensichtlich im „Dunklen Wald“ verlaufen und muss aus irgendwelchen Gründen einen langen Umweg über die Hölle antreten.
Ist aber auch egal, denn Meier setzt auf der bekannten „Göttlichen Komödie“ auf und erklärt den Beginn der Reise (und das Auftauchen Vergils in Schakalgestalt) in fünf Strips wie folgt.
Von der Vorhölle aus gelangen Dante und Vergil an den Unterweltfluss Acheron und seinen legendären Fährmann Charon. Das Duo kämpft sich durch stürmische Winde, Mückenplagen und einen Eisregen (von Langnese). Ein früher Höhepunkt ist eine U-Bahn-Fahrt in die ehemalige DDR, wo es noch so original grau aussieht wie 1978. Ein Stasi-Teufel behelligt sie mit Formularen und ewigen Wartezeiten; der Zentaur Chiron trägt sie auf seinem Rücken bis zum Selbstmörderwald, wo die Toten besonders wehleidig sind.
Treffender Kommentar Dantes, als er der ersten verdammten Seelen ansichtig wird:
Die Fälscher und Hochstapler leiden moderne Strafen am öffentlichen Pranger (und sind natürlich längst in der digitalen Welt angekommen):
Flott geht es von Kreis zu Kreis. Bei den Verführern und Heiratsschwindlern stapeln sich Aktenberge von Vaterschaftsklagen; die Schmeichler und Narzissten polieren jahrelang die Displays ihrer Smartphones; ein chinesischer Kopist von Damenhandtaschen fühlt sich ungerecht behandelt; kritisch wird es im 8. Kreis, wo eine Horde von Dämonen unsere Pilger in siedendes Pech tunken will – nur Dantes Geheimwaffe, ein explosiver Herrenschuh, kann ihnen noch aus dieser misslichen Lage helfen.
Meiers Dante wirkt vom Look her überhaupt wie ein Actionheld, er ist ein rotbärtiger Athlet im Feinrippunterhemd. John McClane aus „Stirb langsam“ wie auch Indiana Jones lassen grüßen: „Schlangen? Ich hasse Schlangen!“:
Auch wenn meine Beschreibungen nach überdrehter Comedy klingen mögen, inszeniert Meier seine Komik nicht mit dem Holzhammer, sondern mit distanziertem, fein beobachtetem und hintergründigem Humor.
DAS INFERNO ist kein Schenkelklopfer, es ist eine intelligente Adaption zum freudigen Schmunzeln.
(Ach, der letzte Satz klingt schrecklich bräsig, dafür komme ich in die Hölle – hoffentlich in Meiers Unterwelt, wo es originell und lustig zugeht.)
Infernalisch stylish
Das Artwork ist speziell zu nennen. Meier verweigert traditionelle Zeichnungen in Outlines, sondern illustriert sein INFERNO mit flächigen, ausrissartigen Figuren, die an Trickfilm erinnern oder an Collagentechniken (ich vermute eine Computerarbeit).
Das gelingt ihm richtig schick und erstaunlich nuanciert, zudem beherrscht er die Kunst der Farbgebung: Seine Hölle schaut düster aus in diesen Rot-Schwarz-Braun-Tönen, die gewitzt mit Weiß, Beige und Dunkelgrün konstrastiert werden.
In folgender Sequenz befreit Nikola Tesla Dante mit einer Strahlenkanone von seinem Schatten (der nicht mehr sein Schatten ist, sondern ein Spion Satans):
Natürlich hängt dieser Comic im formalen Korsett eines Vier-Bild-Tagesstrips fest. Die Panels sind alle gleich groß und bilden ihre Aktion meist in der Halbtotalen bzw. Totalen ab. Das ist sehr restriktiv, hat mich aber nicht gestört.
Meier weiß seine Bilder abwechslungsreich mit Sprechblasen und Farben und Hintergründen zu füllen und zu variieren. Man mag sich ausmalen, was DAS INFERNO als Graphic Novel mit freier Seitengestaltung hätte werden können, der Gedanke aber ist müßig – und wird geradewegs in den 8. Kreis der Hölle (Verführung) verbannt.
Im Gegenteil darf man darüber staunen, wie clever und kompetent Meier seine Strips in drei bis fünf Panels „taktet“, oft genug einen Gag am Ende rausholt. Studieren Sie mal die drei Strips, die hier auf Seite 28 versammelt sind:
Im ersten manifestiert sich Dantes kindliche Seele in Kinderzeichnungen, im zweiten kann er die Vorstellung steuern und erfüllt sich Jugendwünsche, im dritten ist er zum Erwachsenen gereift und entlarvt Vergils atheistisches Konzept durch eine philosophische Frage als Fehlkonstrukt an sich!
(Das stumme Schlussbild mit Durchbrechung der vierten Wand signalisiert Ironie und ähnelt dem „Freeze Frame“ oder dem „Double Take“ in Fernseh-Sitcoms.)
Fein gemacht, Herr Meier!
Ihr, die ihr diesen Comic aufschlagt, lasset allen Trübsinn fahren!
Hölle, Hölle, Hölle
Apropos „Bad Hersfeld-Wimmelbuch“: In DAS INFERNO wimmelt es auch, und zwar vor Gastauftritten und Cameos historischer Persönlichkeiten und popkultureller Prominenz von Adolf Hitler über Walter Ulbricht bis hin zu Silvio Berlusconi und Chris De Burgh. Sogar Lucky Luke kommt drin vor!
Der Verlag Reprodukt präsentiert DAS INFERNO (vormals bei Rotopol erschienen) in einer überarbeiteten Neuauflage. Das kundige Nachwort der Kunstwissenschaftlerin Cordula Patzig vermittelt einem noch wertvolle Infos und rundet diese Edition zu einem Highlight des deutschen Comics ab.
Ein Fünf-Minuten-Telefoninterview mit Michael Meier für einen Beitrag auf SWR2 Kultur ist im Netz anzuhören.
Für bewegte Bilder folgen Sie mir auf den vierten Kreis von Instagram, um ein Blättervideo zum Werk zu betrachten.