Die leichte Unerträglichkeit des Seins: CLEAR

Mit dieser Besprechung setzen wir unsere Scott-SnyderAutorenfestspiele statt. Der Splitter-Verlag hat einen bunten Strauß an Lizenzen desselben eingekauft, denen wir hier nach CANARY einen weiteren Beitrag widmen.

Auch diese Wahl bereue ich nicht, denn nach einem zugegeben rätselhaften Einstieg begegnen wir der Hauptfigur, die martialisch auf einem Motorrad thront und ihren Helm mit einem seltsamen Symbol verziert hat:

Sam Dunes ist Privatdetektiv im San Francisco des Jahres 2052. Er überwacht fremdgehende Ehemänner, die ihren Frauen mit einem „Veil“ untreu werden. In dieser Zukunft ist virtuelle Realität der Standard – alle Menschen filtern ihre Wahrnehmung, um sie nach Wunsch zu verschönern oder aufzupeppen.

Alle Menschen? Nicht Sam Dunes, der letzte Mann, der noch „klar“ sehen will.
Das find ich schon mal eine Knalleridee für einen dystopischen Thriller.

Dunes legt sich mit Veil-Dealern an, erntet dafür Kopfschütteln von seinem Polizistenfreund Collins und schleppt sich mehr schlecht als recht über die Runden, als ihn eines Tages eine Botschaft aus dem Jenseits erreicht.

Seine Exfrau Kendra, ihres Zeichens Software-Entwicklerin, wird tot aufgefunden. Die Polizei glaubt an einen Selbstmord, doch Sam ermittelt und stößt auf Ungereimtheiten.

Spuren führen zu einer Rebellengruppe, die illegale Veils so perfektioniert, dass sich ganze Gruppen in einer Realität zusammenschließen können. Das ist vom Staat und den Veil-Produzenten nicht gewollt.

Auch Sam ist nicht der drogenfreie Unschuldsengel, als der er sich gibt. Lange Zeit hat er sich mit einem illegalen Veil betäubt: Nach dem Unfalltod seines Sohnes Baxter (an dem auch die Ehe mit Kendra zerbrach) flüchtete er sich in eine Realität, in der Baxter noch lebte.

Die Rebellen nehmen Sam erst in die Mangel, dann verraten sie ihm, dass Kendra auf ihrer Seite stand, um einen Super-Veil zu erschaffen.

In Passagen wie folgender wird einiges erklärt und es fühlt sich etwas technisch an:

Dass man diesen Super-Veilper Hand in einer Serverfarm einspeisen muss“, ist natürlich Techno-Mumpitz, aber CLEAR braucht diesen Handlungstrick, damit Sam auf die nächste Ebene vordringen kann.

Also: Empfang bei der reichen Klientin vom Anfang, die Informationen diesbezüglich besitzt. Der technikbesessene Ehemann jedoch hetzt Sam ein formwandelndes Phantom auf dem Hals.

Sam kommt ins Schwimmen: Sein Angreifer sieht exakt aus wie er!
Was ist noch Realität? Was hat Kendra ihm verschwiegen? Wollte sie sich mit ihm und Baxter in einem neuen Veil wiedervereinen?

Dunes holt weitere Informationen bei den Veil-Dealern ein und macht sich schließlich auf die Suche nach der geheimnisvollen „Witwe“.
Die Dame ist die Koryphäe für illegale Veils und musste Kendra daran hindern, ihren Super-Veil zu installieren – weil die ganze Welt sonst in den „Clear“-Modus gefallen wäre.

Es wird dann noch ein paar Tacken komplizierter. Ich höre hier auf, um a) nichts zu verspoilern und b) weil ich mir nicht sicher bin, ob ich die Handlung noch akkurat wiedergeben kann. :- )

Ein gewisses „Häh?!“-Gefühl müssen Sie bei der Lektüre zulassen. CLEAR ist kompliziert und schlägt gerne plottechnische Haken.

Was heißt das im Klar-Text?

Ich hab’s verkraften können. Anspruchsvoller, aber flotter Comicspaß.

Erneut verrührt Snyder geschickt Versatzteile der Popkultur zu einer cleveren Geschichte: Auf einer Crime-noir-Basis setzt er eine „Matrix“-Variante an und gibt ihr emotionalen Anker durch den tragischen Kindsverlust.

Mir kamen Assoziationen an Spielbergs fast vergessenen „A. I. – Künstliche Intelligenz“ wie auch an moderne Verschwörungsthriller-Serien wie „Person of Interest“ oder spekulative Science Fiction à la „Black Mirror“.

Ähnlich wie bei CANARY adelt das Artwork dieses Szenario zu einem lesenswerten Stoff. Francis Manapul kann nicht nur schick zeichnen, sondern gestaltet ein kreatives Layout und versieht das Ganze noch mit schrillen Lichteffekten und kontrastierenden Farben.

CLEAR wird in seinen Händen zu einem fiebrigen Trip, der uns weder Ruhe noch Sicherheit gönnt – und das ist durchaus im Interesse der durch mehrere Wendungen zuckenden Story!

Hier noch der konkrete Link zur Splitter-Webseite (mit Leseprobe der ersten elf Seiten).

Wer mehr möchte, kann per Mausklick mit mir durch den geblätterten Comic zucken:

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