Irgendwo in der Mitte des Buchs hielt ich plötzlich inne und dachte: „Moment mal. Julia Nonne? Nonne, das geht ja gar nicht. Haha!“
Denn eine Figur in QUALITYLAND, eine TV-Moderatorin (die mir schon begegnet war), heißt Julia Nonne. Allerdings muss man wissen, dass alle Personen in diesem Roman als Nachnamen automatisch die Berufsbezeichnung ihres Vaters (bei Jungen) bzw. ihrer Mutter (bei Mädchen) bekommen – und zwar zum Zeitpunkt der Zeugung!
Eine „Julia Nonne“ ist deshalb ein Paradox und verrät uns den massiven Fehltritt ihrer Mutter.
So fein und hintergründig perlen manchen Pointen in QUALITYLAND, einem Roman über eine Zukunft, die unser Leben radikal optimiert. Deshalb bestimmen kluge Algorithmen über unsere Konsum- und Partnerwahl, deshalb tritt ein Android zur Wahl an (in einem Land, das sich zur Selbstanpreisung in „QualityLand“ umbenannt hat).
Die anderen Länder unserer Erde werden generell mit dem abwertenden Begriff QuantityLand bezeichnet (denn Qualität geht vor Quantität) und der Einfachheit halber durchnummeriert.
Mit QuantityLand7 scheint man sich im (kalten?) Kriegszustand zu befinden, denn von dort kommen nur Terroristen!
Das Leben, wie wir es kennen, hat deutlich an Zwischentönen verloren.
Andere Figuren heißen Conrad Koch, Sandra Admin, Martyn Vorstand oder Peter Arbeitsloser.
Letzterer übrigens der Protagonist, ein sogenannter „Nutzloser“, ein tief gelevelter Mensch aus der Unterschicht, der eine Schrottpresse betreibt.
Weil Peter nur ein Level-9-Bürger ist, hat er kaum Aufstiegschancen, bekommt nur Ramsch angeboten und wird von Lieferdrohnen damit belästigt, Pakete für die Nachbarn anzunehmen (das passiert höheren Leveln nämlich nicht mehr!).
Der Autor von QUALITYLAND, Marc-Uwe Kling, spinnt ein fein verwobenes Netz aus Running Gags und Callbacks, das sich zur Entwirrung auch nicht aufdrängt.
Heißt: Leserin und Leser sind angehalten, selber Details zu entdecken.
Schnell zwei Beispiele aus meinem Kopf:
Einmal wird genauer auf die Namensgebung in QUALITYLAND eingegangen. Da durch den Zwang zum Nachnamen öfters Doubletten auftreten, verpasst man den Kindern unkonventionelle Vornamen, indem man das geläufige „I“ durch ein markantes „Y“ ersetzt.
Und? Kommt Ihnen der „Martyn“ von vorhin in den Sinn? Sehense.
Thema Sicherheit in der Zukunft: Sie fühlen sich nicht sicher? Kaufen Sie sich eine Selbstüberwachungs-Drohne der Firma SuperSecure (SS). Diese Flugroboter folgen Ihnen auffällig, filmen jeden Ihrer Schritte und streamen alles live in die Cloud!
Kann nix mehr passieren.
Oder? Später im Buch findet sich eine Pressemeldung über einen Unfall: Eine Selbstüberwachungs-Drohne ist mit einer anderen zusammengestoßen und hat deren Besitzer unter sich erschlagen!
Die Nachricht schließt mit der zynischen Bemerkung, es habe sich um keine Qualitätsdrohne von SuperSecure, sondern um eine billige Kopie der Firme PrettySecure gehandelt …
Auch auf der Meta-Ebene rappelt es ganz schön:
Im Frontispiz stehen ulkige Anweisungen zur „Version“ des Buchs. Die klären sich später, wenn wir der Androidin „Kalliope 7.3“ begegnen, einer Schriftstellerin. Die Vorbemerkungen nämlich sind signiert mit „Kalliope 7.3“, was bedeuten würde, QUALITYLAND stammt nicht aus der Feder von Marc-Uwe Kling, sondern aus den Schaltkreisen des Autoren-Bots.
Überhaupt steht vorne im Buch nicht bloß QUALITYLAND, sondern „QUALITYLAND für Dich“.
Was wir alle für eine originelle Widmung halten, könnte auch bedeuten, dass diese Ausgabe von QUALITYLAND auf den Leser dank intelligenter Algorithmen personalisiert wurde.
Böse ist es, und so wahr!
Es geht um einen Wahlkampf zwischen dem altruistischen Droiden „John of Us“ und seinem populistischen Widersacher Conrad Koch. In dieser Figur darf man ruhig ein bisschen Donald Trump und seine Kultur der alternativen Fakten erkennen.
Es geht um Menschen, die hauptsächlich aufgrund ihres Reichtums in höhere und niedere Level sortiert werden – wobei Personen mit hohem Level allerhand Privilegien widerfahren und sogar Ordnungswidrigkeiten begehen dürfen.
Es geht um den allmächtigen Onlineversand „The Shop“, der seine Kunden automatisch mit den Dingen beliefert, die sie anhand ihrer Datenprofile wünschen. Zum Stein des Anstoßes und Kern der Handlung wird ein rosafarbener Delfin-Vibrator, den Peter nicht bestellt hat. Sein Kampf gegen die Windmühlen des Systems macht ihn kurzfristig zum Internet-Prominenten.
Und es geht auch um die unheimliche Macht der künstlichen Intelligenzen bis hin zur dominierenden Superintelligenz, die auf dem Sprung ist, das Leben der Menschen völlig alleine zu gestalten.
Kling gelingt es dabei noch, verschüttetes Wissen in die Handlung zu schmuggeln, zum Beispiel die Anekdote mit dem real existierenden „Chatbot“ Microsoft Tay, der nur nach Stunden vom Netz genommen werden musste, weil er sich zum rassistischen Troll wandelte!
(Merke: QUALITYLAND regt auch zum Recherchieren an …)
As time goes by
Das erste Kapitel von QUALITYLAND heißt „Ein Kuss“.
Darin geht es jedoch nicht um Gefühle oder eine romantische Aktion, sondern um einen Bezahlvorgang! In der Zukunft bezahlt man Waren, indem man einen Kuss auf sein Smartphone drückt (sogenannte TouchKiss-Technik): Das sei nicht nur fälschungssicher, sondern schaffe auch eine emotionale Bindung zum digitalen Endgerät.
Diese eine Idee hat mich schon für das Buch eingenommen!
Das größte Kunststück des Marc-Uwe Kling aber ist es, dass wir seine haarsträubenden Zukunftsvisionen für absolut vorstellbar halten.
QUALITYLAND ist ein erstaunlicher Wurf. Ich habe auf jeder Seite meinen Spaß gehabt. Und es sind derer 384. Bin geneigt, es zu den komischsten deutschen Büchern aller Zeiten zu zählen.
Mich jedenfalls hat eine kurze Passage des Werks, abgedruckt im SPIEGEL, auf das Buch angefixt. Vielleicht halte ich es mit Ihnen genauso.
Ich suche einen Absatz raus, der den Ton verdeutlicht und auch den Humor:
„Am nächsten Morgen wacht Peter recht spät auf. Er hat die Nacht mit dem Sixpack verbracht. Gleich nachdem er die Flaschen geleert hatte, war eine Drohne mit einem neuen Sixpack an sein Fenster geschwirrt.
Jetzt macht ihn eine Mitteilung auf seinem QualityPad darauf aufmerksam, dass durch sein unvernünftiges Handeln sein Punktekonto bei der Krankenversicherung ins Minus gerutscht ist. Niemand [der Names seines QualityPads] legt ihm darum nahe, ins Fitnessstudio zu gehen.
Dort angekommen, bucht Peter eine Holokabine und rennt auf einem Laufband, als ob eine Horde Zombies hinter ihm her wäre. Tatsächlich ist in diesem Holo-Szenario eine Horde Zombies hinter ihm her. Das Laufband hat ihm dieses Szenario als zu seiner Stimmung passend vorgeschlagen.“
Und jetzt ein bisschen Werbung!
Ach, wahrscheinlich kennen Sie den Autoren, Marc-Uwe Kling schon.
Marc-Uwe Kling ist der Typ mit dem Känguru!
Mehrere Menschen haben mich schon mit den dazu gehörenden Hörbüchern beschenkt.
Will ich nicht, habe ich stets verweigert.
Känguru, so ein Quatsch!
Aber QUALITYLAND ist geil!
Letzter Hinweis:
Ich habe die Ullstein-Taschenbuchausgabe von 2019 für 11 Euro, und zwar in Schwarz. Es gibt auch eine in Weiß.
Kling hat sein Werk in zwei Varianten verfasst: eine dunkle und eine helle Edition!
Auch hierzu gibt es Webseiten: Die scheint mir aber dieselbe zu sein.
Jedenfalls enthält die helle Buch-Fassung andere Einschübe als die dunkle.
„Hell: für Optimisten“ und „Dunkel: für Apokalyptiker“.
Dort auch ein Video mit kurzer Lesung abrufbar.
Großes Mysterium, dass dieser Stoff noch nicht in der Entwicklung zu einer deutschen Fernsehserie ist. Dieser Stoff ist allerdings in der Entwicklung für HBO! Na bitte.
(Abschließend ein Bonusbildchen: eine dieser „schwarzen Seiten“ mit einer sarkastischen Meldung.)