Diesen Comic habe ich mit einer falschen Erwartung bestellt und gelesen. Ich hatte auf eine freche Graphic Novel über die alltäglichen Erlebnisse einer groß gewachsenen Frau gehofft. Über die Sprüche, die sie sich anhören muss – und über ihre Abwehrmechanismen und den Humor, mit dem sie kontert.
Autorin und Zeichnerin Mia Oberländer aber skizziert in ANNA Anekdoten aus dem Familienleben dreier Generationen: Großmutter Anna 1, Mutter Anna 2 und Tochter Anna 3 sind allesamt physisch groß gewachsen und allesamt unglücklich damit.
Wobei mir nicht klar wird, weshalb die Frauen so unter ihrer Körpergröße leiden: Weil sie Stelzenbeine haben? Weil sie andere Menschen überragen? Weil auf Fotos ihre Köpfe abgeschnitten sind?
Oberländer übertreibt natürlich grafisch, die Physiognomien ihrer Figuren sind ins Absurde überzeichnet. Dennoch fehlt mir Interaktion mit der Umwelt. Mir scheint, diese Frauen machen sich selber runter. Das tun große Menschen sicherlich, aber so zündet noch keine Erzählung. Das illustriert nur schlechte Laune.
Den Anblick des übergroßen Babys (Anna 2) kommentiert jemand aus dem Dorf mit dem flapsigen Spruch: „Hat das sein Geschwisterchen gefressen?“ – Ist das ein Grund, traumatisiert zu sein?
ANNA beginnt mit der Beschreibung des (offenbar fiktiven) Ortes Bad Hohenheim und seiner mürrischen Menschen zur Nachkriegszeit. Wir dürfen uns dazu einen Landstrich in Baden-Württemberg oder den Voralpen vorstellen, in dem die Geburt des riesenhaften Babys „Anna 2“ Furcht und Schrecken auslöst.
Grafische Übertreibung kann zum Lachen reizen, hier aber überzieht Oberländer meiner Meinung nach. Denn so wie auf der linken Seite kann es ja nicht gewesen sein. Das Kleinkind in Relation zu einem Haus zu setzen und erschrockene Menschen in den Himmel starren zu lassen, überspannt den Bogen.
Das ist Anna, nicht Godzilla.
Ein ganzes Kapitel gehört der Großmutter Anna 1, die anscheinend keine „Riesin“ war, aber als Mädchen einen großen Hund geschenkt bekam. Die Zeichnungen machen aus diesem „Lollo“ einen Hund mit unmöglich langen Beinen, der jedoch das Herz der Großmutter gewinnen kann. Die Geschichte läuft darauf hinaus, dass Lollo den Kanarienvogel der Nachbarin erlegt, wofür ein anderer Nachbar den armen Hund im See ersäuft.
Was haben diese 15 Seiten mit dem Thema „Große Frauen“ zu tun? Die Anekdote ist ja gültig, aber wozu dient sie hier? Sagt sie uns: Hunden mit langen Beinen ergeht es schlecht? In welcher Weise ist das relevant für die Probleme groß gewachsener Frauen?
Ein kauziger Exkurs, eine Parallele aus dem Tierleben, meinetwegen.
Oder Oberländers Weltsicht und Humor sind so schwarz, dass mir die Komik nicht aufgeht.
Der komische Höhepunkt an ANNA ist für mich jedenfalls Kapitel 3, wo Oberländer einen Fernsehbeitrag aus dem Jahr 1970 rekapituliert: Eine groß gewachsene Frau berichtet darin über ihre Probleme und warnt ausdrücklich vor gewissen Männern:
Sehr schön ist das schmale Lächeln, das Oberländer ihrer Figur zum Schluss auf die Lippen zaubert …
Ja, so festgefahren war es in der alten Bundesrepublik Deutschland: Schwule suchten sich noch Tarnung und Frauen (nicht nur die großen) konnten ums Verrecken nicht einparken.
So lustig Oberländers Fund ist, hätte ich gerne erfahren, was denn Annas Erfahrungen mit Männern sind. Davon hören wir aber leider nichts. Beziehungsweise fast nichts, denn in Kapitel 7 geht Anna 3 mit einer Freundin in der Diskothek „Tropico“ tanzen und zieht die Blicke einen jungen Mannes auf sich.
Diese Szene endet allerdings überraschend abrupt, ohne dass sich die beiden Figuren auch nur „Hallo“ gesagt hätten.
30 Seiten weiter musste ich mir erschließen, dass der Bademeister, der Anna aus dem See rettet, ebenjener Mann aus dem „Tropico“ ist. Ach sooo: Die Kontaktaufnahme geschieht bei einem dramatischen Wiedersehen.
Auf der letzten Seite sehen Sie eine aus Sicht der Figuren bedrückende Situation, wo über Körpergröße gelästert wird. „Das Kind ist zu lang zum Schwimmen“ hab ich noch nie gehört, es macht auch physikalisch keinen Sinn. Ein dämlicher Spruch, den man gut abtropfen lassen könnte (haha), doch Mutter Anna 2 reagiert gereizt.
Gut, vielleicht fehlt mir die Einfühlung (bin selber ein großer Mann, der aber nie Probleme damit hatte, im Gegenteil). Für Frauen ist eine Größe über der Norm garantiert etwas völlig anderes als für Männer. Auch das aber hätte ich gerne im Vergleich thematisiert gesehen.
Stattdessen kreisen Oberländers Figuren um sich selbst. Anna 2 nämlich stürmt in ihrer Wut auf eine nahe gelegene Bergspitze und schreit ihren Frust heraus (wobei sie fantasiert, sie sei ein zerstörerischer Vulkan).
Annas Eruption in diesem Kapitel 10 („Der Befreiungsschlag“) ist eine fantastische, eine umwerfende Passage. Oberländers Zeichnungen sind zwar grob, aber erfrischend expressiv.
Ihre Tochter, Anna 3, wählt einen anderen Weg: Mit ihrem Bademeister (der auch groß gewachsen ist) wandert sie auf denselben Berggipfel und macht dort oben Frieden mit der Natur (auch ihrer biologischen): Die Erhabenheit der Vogelperspektive ist einfach unschlagbar.
Auf große Menschen kann man nicht herabsehen!
Ich möchte ANNA nicht kleinreden, aber ich vermisse eine Linie, ein narratives Konzept. Ich sehe Stückwerk vor mir, das drei Figuren umreißt, dabei aber keine richtig aufschließt. Die drei Annas bleiben mir fremd.
Aber da mag ja in Zukunft mehr drin sein: Mia Oberländer nämlich studiert in der Masterklasse von Anke Feuchtenberger an der HAW (Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hamburg).
ANNA ist Oberländers Bachelorarbeit, mit der sie immerhin dieses Jahr den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung errungen hat. Wir hoffen auf ein nächstes Werk.
Verlagshinweis zu ANNA auf der Homepage der Edition Moderne. Dort auch einsehbar ist eine Leseprobe (einfach auf das Titelbild klicken).
Ich blättere aber auch ins Werk hinein: