Was bisher geschah: Rufus Himmelstoss, Handelsvertreter, Alkoholiker und Lebemann, der soeben seine kompletten Ersparnisse durchgebracht hat, verlässt Frau und Sohn und taucht ab in ein anonymes Leben als Stadtstreicher, als er bei einer Trunkenheitsfahrt mit anschließender Fahrerflucht den Tod einer Mutter samt zweier Kinder verschuldet.
In Rückblenden ins München der 1970er-Jahre erfahren wir von diesen Ereignissen, auch von der erfolglosen Fahndung der Polizei nach Rufus, in die sich Kommissarin Harriett Möller verbissen hat.
Auf der Gegenwartsebene ringt der Sohn des Verschwundenen, der Illustrator und Comiczeichner Victor Himmelstoss, sowohl mit seinem Beruf wie seinem Privatleben: Für die Familie bleibt zu wenig Zeit, denn Victor muss Geld verdienen, was in seinem Metier schwierig ist. Ein Teufelskreislauf, noch davon befeuert, dass der Künstler sich gerne gehen lässt und seine Nächte in Kneipen totschlägt anstatt sich im Haushalt einzubringen.
Das ist die Exposition von Band 1, die Zeichner und Autor Uli Oesterle vor drei Jahren bei Carlsen veröffentlichte. VATERMILCH ist sein opus magnum, angelegt auf vier Bände, von denen kürzlich Nummer 2 erschienen ist.
Wat nu?
Schatten des Vaters
Ein Jahr ist vergangen und 1977 wirft Harriett Möller den Krempel hin: Da sie den Fahrerfluchtfall nicht länger verfolgen darf, kündigt sie entnervt den Polizeidienst. Wir treffen sie in der Mitte des Albums (und ein weiteres Jahr später) als Köchin einer Suppenküche wieder, die auch Rufus (mit inzwischen gestutzter Frisur) frequentiert.
Die überraschende Begegnung ist für uns ein Schock (und wird von Oesterle auch wie ein Showdown inszeniert), aber natürlich kennen und erkennen sich die beiden nicht. Rufus weiß nicht, wer sie mal war – und Harriett hatte nur ein Phantombild eines langhaarigen Schürzenjägers vor Augen.
In aller Ironie des Schicksals entwickelt sich eine gegenseitige Anziehung zwischen diesen beiden Figuren, die sich besser niemals begegnet wären bzw. unter anderen Vorzeichen, und dann mit Gitterstäben zwischen sich. Aber ich verrate eventuell schon zu viel.
Schauen wir lieber, wie Rufus in die Suppenküche kam. Das hat er seinem Schutzengel Börni zu verdanken, einem Menschen, der sich schon in Band 1 ab und zu um Rufus gekümmert hat. Börni (von dem wir auch eine krasse Backstory erfahren) erkennt dessen selbstzerstörerische Tendenzen und schafft es, Rufus aus der Gosse zu ziehen.
Rufus, weiterhin geplagt von Flashbacks an den tödlichen Autounfall, in Kombination mit einer schwarzen Wolke, die seine beginnende geistige Umnachtung symbolisiert, stellt sich auf die Hinterbeine und assistiert Börni bei der Organisation der Suppenküche für die Gestrandeten der Gesellschaft.
Auf der Gegenwartsebene (auf den Seiten, die in monochromem Blau gestaltet sind) machen wir in Echtzeit bei Sohn Victor weiter, der nach seiner Nacht in der Ausnüchterungszelle mit Frau und Sohn zu einer Bergwanderung aufgebrochen war.
Mit verkatertem Schädel absolviert Victor die strapaziöse Lauferei bergauf – und statt „quality time“ mit der Familie gibt es erneut Zoff mit dem handysüchtigen Sohn Bela und der eingeschnappten Freundin Franzi.
Die schwangere Frau bleibt zurück, als Victor mit Bela den Gipfelsturm angeht und zeitgleich ein Gewitter aufzieht. Vor dieser drohenden Kulisse kommt es doch noch zu einer gemeinsam Aktion von Vater und Sohn, die unangefochten den stärksten Moment des Comics serviert. Verrate ich aber nicht.
Weiterhin rätselhaft in VATERMILCH bleiben die Einschübe, die einen bislang namenlosen Berserker zeigen. Diese Szenen legt Oesterle auch grafisch anders an (dafür geht er in schrofferem Schwarzweiß in Richtung SIN CITY).
Wer diese Figur ist und was ihr Auftreten bedeutet, das wird sich erst in Band 3 oder 4 erschließen. Ich vertraue jedoch vollkommen darauf, dass es ein Aha-Erlebnis werden wird.
Hopp oder topp oder was dazwischen?
Kollege Vermes urteilt in seinem Blog „Comicverführer“ frech, nach dem „schaurig-schönen Absturz“ von Rufus in Band 1 böge Oesterle in Band 2 „nun auf den dramatisch unattraktiveren Weg der Läuterung ein“ und der Comic verströme „die Lauwärme eines Priesterseminars“.
Na, sag ich. Erstens muss ja dramaturgisch ein Umschwung erfolgen und Anlauf genommen werden für zukünftige Katastrophen. Zweitens darf man konstatieren, dass Oesterle sein Epos höchst kunstvoll arrangiert und sämtliche Bälle in der Luft zu halten weiß.
Man muss halt Geduld aufbringen. Wir sind jetzt in der Mitte der Geschichte. Ich bin schon gespannt darauf, ob Rufus ein nächster Absturz bevorsteht, ob Harriett noch auf den Trichter kommt, ob Victor jemals seinen Comic um Hauptfigur Ulrich (sic!) fertigkriegt.
(Mehr zu diesem Meta-Spiel im Anhang zu diesem Beitrag.)
Tja, so geht es zu in der Welt von VATERMILCH. Kann Oesterle sein Tempo beibehalten, erleben wir in sechs Jahren das Finale. Dann schreiben wir das Jahr 2030, Braunkohle gibt es keine mehr, dafür Flugtaxis und Unterwasserstädte …
Tschuldigung, das ist jetzt nur ein bisschen sarkastisch gemeint. So läuft Comicproduktion leider in Deutschland: Unsere Comicschaffenden produzieren ihre Kunst unbezahlt in ihrer Freizeit.
Allerdings weiß ich, dass Oesterle die Storyboards zu allen vier Bänden von VATERMILCH bereits 2019 fertig hatte! Ich habe sie nämlich gesehen, als ich ihn damals in seinem Atelier besucht habe. Da erschüttert es mich schon, dass er nicht schneller vorankommt.
Aber unser Uli ist ein Gigant der deutschsprachigen Szene, der pedantisch und perfektionistisch zu Werke geht – und sich außerdem nicht hetzen lässt. Da ist er ganz cool.
Wer mehr zu VATERMILCH wissen möchte, dem hänge ich hier noch ein PDF an. Es handelt sich um das große Feature zu Band 1 aus COMIXENE Nr. 136, das ich damals geschrieben habe, wie immer mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Rene Lehner (der übrigens damals mit von der Partie war und alles bezeugen kann).