Betrachten wir die seit Beginn hochgelobte SPIROU-Serie von Autor und Zeichner Émile Bravo. Begonnen 2018 und 2022 als Comic-Tetralogie (Vierteiler) mit knapp 350 Seiten abgeschlossen, liegt das Werk beim deutschen Verlag Carlsen seit Sommer 2023 auch in einem Schmuckschuber mit Bonusmaterial auf Deutsch vor.
Den war ich gewillt mir zuzulegen, als ich das erste Album (Teil eins) gelesen hatte. Dermaßen beeindruckt war ich von Bravos Art, in der er seinen Spirou in Belgien zur Zeit der deutschen Besatzung 1940-44 agieren lässt.
Denn sein pfiffiger Page ist kein Draufgänger und kein Held, sondern ein verunsicherter Jugendlicher von 16 Jahren, ein ehemaliges Waisenhauskind, das sich in seinem Leben im Hotel „Moustic“ überhaupt erst mal zurechtfinden muss.
Dieser Spirou schaut ratlos und erschrocken auf das Geschehen und versucht, sich in dieser brutalen Zeit seine Menschlichkeit zu bewahren und helfen zu können, wo es geht.
Er ist für uns eine ideale Identifikationsfigur, konterkariert durch den älteren Fantasio – der gerne mal unüberlegt und gefährlich handelt.
Doch bevor wir konkret in diesen Kosmos einsteigen, eine Vorbemerkung in Sachen Comichistorie.
Ligne Marcinelle oder École claire?
Worüber ich ja nicht hinwegkomme: Dass Émile Bravo seinen SPIROU in einer „Ligne claire“ zeichnet!
Was mich daran irritiert, ist die Tatsache, dass ebendiese Ligne claire das Markenzeichen der Konkurrenz von TINTIN ist (begründet durch Hergé).
SPIROU war immer Vertreter der anderen großen, frankobelgischen Schule: der „École Marcinelle“ (geprägt durch Franquin).
Für mich ist das ein Krieg der Systeme; ich war immer auf Seiten der dynamischeren École Marcinelle. Deswegen bleibt SPIROU ODER: DIE HOFFNUNG ein Sakrileg für mich.
:- )
(Es gab 1982schon mal ein Spirou-Fragment des früh verstorbenen Zeichenstars Yves Chaland, der stilistisch in Richtung Ligne claire tendierte und auch inhaltlich in die 1940er-Jahre zurückreiste.)
Aber was Bravo da macht, finde ich radikal. Zum einen die Umdeutung eines École-Klassikers in die Ligne claire und dann noch eine Erzählung aus dem Zweiten Weltkrieg.
Auch das ist bei SPIROU schon versucht worden, ich habe extensiv darüber geschrieben.
Übrigens spielt Bravo auch selber mit der Nähe zu TINTIN, indem er seinen Spirou in ein Tim-Kostüm steckt:
Ich will im Folgenden ein paar Gedanken festhalten, die mir bei der Lektüre gekommen sind – und frage mich abschließend, wie sinnvoll es ist, Kriegsgeschichten mit beliebten Semifunny-Figuren zu inszenieren.
Ich bitte um Differenzierung
Was mich am ersten Band in den Bann schlug, ist die Vielfalt der historischen Information, aufbereitet und präsentiert durch verschiedene Stimmen. Immer wieder verhandeln die Figuren Sachverhalte, um sie von mehreren Seiten zu beleuchten.
Brüssel wird von deutschen Bombern angegriffen, die Bevölkerung versteckt sich oder flieht aus der Stadt. Die Schulkinder freuen sich einerseits über Unterrichtsausfall, andererseits ängstigen sie sich vor Gräuelmärchen über die anrückenden Besatzer. Spirou weiß zu relativieren:
Andere Szene: Bei einem Pfadfinderausflug trifft Spirou auf eine Jugendgruppe flämischer Faschisten. Deren Anführer sieht in den christlichen Pfadfindern keine Zukunft mehr.
Ein Pfadfinder beginnt eine Diskussion über neue Jugendorganisationen und es entbrennt ein Streit um Flamen versus Wallonen, die „neue Weltordnung“ der Nazis und die übereifrig betriebene Vertreibung der Juden aus Belgien.
Spirou mischt sich ein:
Zurück in Brüssel, besucht Spirou das befreundete Künstlerpärchen Felix und Felka. Beide sind jüdischen Glaubens und müssen sich versteckt halten.
Felix war bereits einmal aus Brüssel deportiert worden, wovon er hier erzählt. Ihm ist die Flucht gelungen, nun verarbeitet er seine Erlebnisse in Gemälden.
Während er mit Spirou noch über Kunst diskutiert, widmet sich die patente Felka einer Beschäftigung für die Besatzer:
SPIROU ODER: DIE HOFFNUNG lässt uns über vier Jahre hinweg die Situation in Brüssel miterleiden. Die Schikanen der Deutschen nehmen zu, die Gesetze gegen Andersdenkende verschärfen sich, alle leiden Hunger – und Spirou hat noch die besondere Sorge um seine Freundin Kassandra.
Die hat mal als Zimmermädchen mit ihm im Hotel gearbeitet, dabei die Deutschen ausspioniert und ist 1940 in ihre Heimat Danzig zurückgegangen. Über alle vier Bände hinweg versucht Spirou, Nachrichten von Kassandra zu erhalten bzw. zu ihr zu reisen, um ihr aus der Patsche zu helfen.
Hier eine Szene vom Auftakt der Serie, wieder unterfüttert durch historisches Hintergrundwissen:
Beeindruckend, wie Autor und Zeichner Bravo eine Comicgeschichte mit Spirou und Fantasio in den Zweiten Weltkrieg einbettet.
Im Fortgang der Handlung stellen die beiden ein Marionetten-Theater auf die Beine und tingeln mit einem schrägen Stück über Hungersnot und Freiheitsdrang durch Belgien. Sie spielen vor Schulklassen und im Anschluss an die Aufführungen übergibt das Lehrpersonal Fantasio geheime Botschaften an die belgische Résistance.
Ich zeige noch eine schöne Seite aus Band 2, auf der zwei stramme Belgo-Faschisten (sagt man so?) ihre Interpretation des Gesehenen vortragen. Die Sequenz vermittelt zugleich den Status quo der Besatzung – inzwischen sind die Belgier schon recht assimiliert, was ihre Beziehung zum Nationalsozialismus betrifft.
Jede Seite macht ein Dutzend voll
Zwischendurch ein Wort zum Layout der Serie. Bravo wählt durchgehend ein Zwölf-Bild-Raster (ich zeige nicht immer die volle Seite, sondern habe oft eine Bildzeile abgeschnitten). Auch das ist extrem, denn es zwingt die Erzählung in kleine Panels, die ja auch mit Text nicht geizen.
Will sagen: Die Lektüre von SPIROU ODER: DIE HOFFNUNG verlangt Sitzfleisch und ein geduldiges Studieren der Sprechblasen. Das ist mir stellenweise schwergefallen.
Denn die detailliert ausgebreiteten Erlebnisse gönnen dem Figurenensemble zwar epische Entwicklung, sabotieren aber auch das Tempo, das für jeden Comic nicht unerheblich ist, wie ich finde. Mach doch mal hinne, Émile!
Zu langatmig sind mir die Episoden vom Tourtheater. Da fahren Spirou und Fantasio hin und her mit ihrem Lastenrad zum Transport der Kulissen. Zwischendurch ist das Fahrrad mal verschwunden, dann pendeln sie öfter mal aufs Land und holen Proviant beim Bauern Anselm, der seine versteckten Lebensmittel an Bedürftige verteilt.
Dann hat Fantasio geheimnisvolle Begegnungen mit ihrer Kontaktfrau vom Widerstand, der Lehrerin Madeleine. Das alles hält er jedoch vor Spirou geheim, der erst am Ende des dritten Bandes die Wahrheit erfährt.
Und wenn man eben dachte „Hmm, es zieht sich ein bisschen“, dann trumpft Bravo mit seiner Kunst auf, Cliffhanger zu setzen.
Zum Beispiel am Ende von Band 2, wenn in einer gespenstischen Szene auf dem nächtlichen Bahnhof erste Judentransporte in den Osten abfahren.
Selbst hier behält Bravo einen kühlen Kopf und verstört uns nicht mit Gewaltszenen, sondern differenzierten Dialogen der Deportierten (was im Grunde noch verstörender ist)!
In einem Streit zwischen einem Juden aus dem Osten und einem Niederländer erfahren wir, auf welch verschiedene Weisen die Menschen in einen solchen Transport geraten konnten – und welche Erwartungen sie zu dem Zeitpunkt hatten.
An dieser Stelle kein weiteres Verraten der Handlung, nur so viel noch: Spirou entkommt aus dem Zug, hört jedoch später von Freunden, dass künftige Deportationen in gesicherten und verschlossenen Viehwagen erfolgen.
Daraufhin beginnt er, gewaltfrei im Widerstand aktiv zu werden, indem er vor Abfahrt der Züge Werkzeug in die Waggons schafft, damit sich die Menschen aus dieser Situation befreien können.
Sag mir, wo die Nazis sind
Interessant ist Bravos Entscheidung, die Nazis nicht zu zeigen. Im Ernst: Die Deutschen kommen nicht vor, obwohl sie Belgien im Würgegriff halten!
Natürlich kommen sie vor, aber nur als gesichtslose schwarze Schatten, von denen höchstens die Beine gezeigt werden, wie auf dem Titelbild von Band 2:
Erst wundert man sich, dann begreift man das Konzept: Bravo verlagert alle Handlung auf belgisches Personal.
Damit bleibt er zwar in einer „belgischen Blase“, die es aber erlaubt, sämtliche Aktionen auf Figuren aus dem lokalen Umfeld zu fokussieren.
Die Nazis ziehen zwar im Hintergrund die Fäden und bestimmen, was derzeit gültiges Recht und durchzusetzende Ordnung sind – aber die Ausführenden und Leidtragenden sind glaubhafte Protagonisten, die wir über 200 Seiten verfolgen: die Mitglieder von Spirous Jugendbande, deren Reden die verschiedenen Haltungen der belgischen Gesellschaft widerspiegeln.
Fantasios Vermieterin, die dem jüdischen Paar Felix und Felka Schutz gewährt. Der Polizeikommissar, der Spirou nach Verhaftung durch kollaborierende Gendarmen wieder laufenlässt.
Bauer Anselm, der auf dem Land fleißig Verpflegung für in Not geratene Städter organisiert. Widerstandskämpfer Edmond, der geradlinig und unbeirrt die Résistance unterstützt.
Der katholische Pfarrer, der das antisemische Regime begrüßt. Die belgische Faschistenjugend, die von sich aus unliebsame Menschen angreift.
Die Nazis sind zwar die Bösen, aber die Bösen brauchen Hilfe beim Böse-Sein. SPIROU ODER: DIE HOFFNUNG macht klar, dass alle Figuren eine Wahl haben.
Sie können die neue Ordnung mittragen oder sie können sich widersetzen, verweigern, dummstellen, raushalten oder auf vielfältige Weise stören und unterminieren.
Das findet meinen Applaus.
Ich bin sehr misstrauisch, wenn ich einen Comic sehe, der von der Bildsprache allein schon schreit: Böse Deutsche, alles Nazis, nur wir sind die Guten.
So gesehen bei der neuen Serie aus Frankreich, die Dominique Bertail zeichnet: MADELEINE, DIE WIDERSTÄNDIGE (Abb. rechts), auf Deutsch bei avant aufgelegt.
Das scheint mir wenig differenziert. Darum noch mal ausbuchstabiert: SPIROU ODER: DIE HOFFNUNG ist ein Wunderwerk der Differenzierung.
Ach so, brauchen wir das Prequel?
Die kurze Antwort: Nö.
Émile Bravo hat bereits 2008 einen SPIROU-Spezialband gestaltet: PORTRÄT EINES HELDEN ALS JUNGER TOR. Der spielt im Brüssel des Jahres 1939, noch vor dem Angriff der Deutschen – und führt alle Figuren ein.
Beispielsweise Fantasio, der als arroganter wie unfähiger Reporter auftritt und im Hotel Moustic ein Prominentenpärchen belauert und auf eine Klatschgeschichte hofft. Als treuer Page schirmt Spirou die Gäste ab, bekommt aber zugleich mit, dass im Hotel Verhandlungen über die Zukunft Polens stattfinden.
Die werden am Ende vom aufbrausenden Fantasio torpediert, dem damit quasi die Kriegsschuld zufällt. (Das müssen Sie jetzt nicht verstehen, es führte zu weit.)
Ich fand den TOR im Vergleich zur HOFFNUNG-Tetralogie relativ belanglos und im Subplot mit den Polen auch geschichtsverfälschend.
Einziges Argument meinerseits für die Lektüre ist, dass wir hier Kassandra Stahl kennenlernen und erleben – die junge Frau, für die Spirou entbrannt ist, die er seine Freundin nennt und um die es als Hintergrundmotivation in den späteren Bänden geht.
SPIROU ODER: MEIN FAZIT
Man kann das natürlich alles so machen, wie Émile Bravo das tut. Mir persönlich ist nie ganz wohl dabei (wie schon im Link zum „Spirou Spezial“ von Yann/Schwartz ausgeführt).
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich habe eine Menge gelernt über die belgische Gesellschaft zu Zeiten der deutschen Besatzung!
Bravo präsentiert ein wunderbar differenziertes Spektrum, das bleibt sein Geniestreich.
Aber müssen es denn unbedingt Spirou und Fantasio sein, die da durch den Zweiten Weltkrieg kaspern?!
Ich glaube, dass französische Serien wie DIE KINDER DER RÉSISTANCE oder UNTER DEM HAKENKREUZ (aus ähnlichen Perspektiven konzipiert) nicht nur realistischer rüberkommen, sondern eventuell sogar mehr leisten.
Aber das ist meine Sichtweise auf Comics mit prominenten Figuren. Ich finde es nicht unbedingt zielführend, wenn reale Historie in Comic-Historie eingebettet wird: Die Serie SPIROU erstreckt sich bekanntlich über 85 Jahre und ebenso viele Alben, welche die verschiedensten Sujets behandeln. Das wirkt im Gesamtüberblick nach Kraut und Rüben.
Andererseits muss ich darauf hinweisen, dass das belgische Magazin SPIROU unter der deutschen Besatzung Brüssels zu leiden hatte – und tatsächlich widerständige Aktionen unternahm!
Vertiefende Angaben bitte nachlesen in Alexander Brauns exzellentem Katalog „Nimm das, Adolf! – Comics im Zweiten Weltkrieg“.
Da dieses Werk leider komplett vergriffen ist und auch antiquarisch nicht erhältlich scheint, formuliere ich dazu aus:
Die Verlegerfamilie Dupuis und vornehmlich ihr Redakteur Jean Doisy ließen sich vom deutschen Herrenmenschentum nicht anstecken, sondern hielten den Krieg hindurch Werte wie Freundschaft, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft hoch.
Dazu nutzten sie ihren Fanclub „Amis de Spirou“, der 1943 stolze 50.000 junge Mitglieder zählte, die sich auch zu heiteren Freizeitaktivitäten trafen.
Der Clou des Ganzen: Das Marionettentheater, das uns Bravo schildert, gab es tatsächlich: Doisy und der Schauspieler André Moons reisten mit Spirou- und Valhardi-Puppen durchs Land, führten freche Stücke auf und fungierten als Boten der Résistance!
Auch sollen bei der Gelegenheit jüdische Kinder durch Belgien geschmuggelt und auf Schutz bietende Familien verteilt worden sein.
Also: Insofern passt es, dass ausgerechnet Spirou als Figur in dieser Phase auftritt. Es ist ein Meta-Spaß für alle, die Bescheid wissen.
Aber natürlich braucht ein Stoff aus dem Zweiten Weltkrieg keine Meta-Ebene, das verstellt unter Umständen den Blick auf die erzählerische Intention – sagt Ihr alter Meckerpott aus der Marcinelle-Schule!
;- )