Dieser Comic ist nicht wirklich verstehbar – und will es auch nicht sein.
VERDAD nämlich breitet Impressionen und Handlungsfragmente in Zeitsprüngen vor uns aus. Dieser Comic präsentiert uns auf höchst kontrastreiche Weise ein Schicksal aus dem Spanien des Bürgerkriegs und des beginnenden Franco-Regimes: und zwar in Dialogen, Rückblenden, Begegnungen, Träumereien, märchenhaften Sequenzen, aber auch handfesten Actionszenen.
Die Comiczeichnerin Lorena Canottiere nähert sich auf diese Weise ihrer Hauptfigur, einer jungen Frau mit dem Vornamen Verdad. Die steht allein im Leben, seit ihre Mutter sie bei der Großmutter geparkt hat und auf den Monte Veritá geflohen ist, um dort bei den Künstlern und Freaks in der legendären Kommune ihre Selbstfindung zu praktizieren.
Ihrer Tochter hat sie hochtrabenderweise den Namen Verdad verpasst (Veritá, Verdad, Wahrheit), was diese als programmatisches Erbe mit sich schleppt. Die junge Frau fühlt sich hehren Idealen verpflichtet, vor allem der Freiheit und Aufrichtigkeit.
Im Spanischen Bürgerkrieg kämpft sie aktiv auf Seiten der Kommunisten, und als diese sich nach Frankreich zurückziehen, wählt Verdad (die bereits den rechten Arm im Kampf verloren hat) den Rückzug in die heimischen Berge. Dort lebt sie als eremitische Partisanin, unterstützt von Landbewohnern, aber in ständiger Gefahr des Verrats.
Verdad sehnt sich nach einer libertären Welt, wie sie (in ihrer Fantasie zumindest) auf dem Monte Veritá praktiziert wird, doch erlaubt sie sich nicht die Flucht dorthin. Vielleicht möchte sie die Ideale der Mutter (die nicht im Buch vorkommt) auf spanischem Boden durchsetzen.
Wie Sie sehen, bin ich bereits interpretatorisch unterwegs. Ein/e jede/r liest dieses Werk garantiert anders! Denn VERDAD, der Comic, ist ein Bewusstseins-Flow der Künstlerin, nicht durchdramatisiert, sondern deutungsoffen.
Dafür sprechen auch die Verweise auf die ferne, theoretische Welt des Monte Veritá wie auch die eingeflochtene Meta-Erzählung über den „Alten Fuchs“, der eine Philosophie von „Räubern oder Beute“ lebt. Womöglich stilisiert sich Verdad in dieser Rolle, indem sie das Exil in der Wildnis sucht. Irgendjemand muss in diesen Umbruchzeiten als bewährte Instanz für Kontinuität sorgen.
Und schon bin ich wieder in meinen Gedanken, die nicht die Ihren sein werden …
Ich habe Lorena Canottiere auf einer Lesung kennengelernt und sie als kreative, engagierte Künstlerin erlebt. Freimütig hat sie berichtet, dass sie VERDAD als intuitive Arbeit gestaltet hat. Folglich gibt es kein singulär gültiges Lese-Erlebnis.
Wir driften durch diesen Comic, sind mal nah dran an einem kriegerischen Handlungsgeschehen, dann wiederum schweben wir durch naturmystische Passagen und landen schließlich auf folkoristischen Erzählungen über Leben und Tod.
VERDAD ist so ausdrucksstark wie eigenartig – und das gefällt mir. Hier muss ich nicht jeden Dialog, jeden Gedanken begreifen. Dieses Werk transportiert eine selten gesehene, individuelle Stimmung, was natürlich durch Canottieres brillantes Artwork befeuert wird!
Ihre Art zu zeichnen ist von einer flotten, unbekümmerten Direktheit. Wie hingeworfen, trotzdem filigran und komponiert. Das finde ich beeindruckend und faszinierend.
Ich sehe eine stilistische Verwandtschaft zu den quirligen Buntstiften von Leonie Bischoff.
Nur arbeitet Canottiere in dieser Technik weitaus lockerer und expressiver. Auch weiß sie ihren Stil für Rückblenden, Exkurse und Einschuberzählungen zu variieren, darüber hinaus schätze ich ihre kreative Kamera – die die manchmal inszenatorisch strengen Gefilde der Graphic Novel salopp hinter sich lässt, ja regelrecht sprengt.
VERDAD ist ihr einziges Werk, das eine Übersetzung ins Deutsche erfahren hat. In ihrer Heimat Italien gibt es etwas mehr Stoff; momentan arbeitet Canottiere jedoch für den frankobelgischen Markt, illustriert fremde Skripte – und behauptet, davon leben zu können. Ist doch schön.
VERDAD ist (schon vor fünf Jahren) im österreichischen Politcomic-Verlag Bahoe Books erschienen. Wer dem Link folgt, findet dort auch noch eine Leseprobe aus dem Innenteil des Buchs.
Wer mir auf meinen Videolink folgt, kann ebenfalls noch in das Buch hineinschauen.