TENET: Sie nennen es „Kino“

Christopher Nolans Actionkomödie TENET …
Halt, ich will anders anfangen.

Man führt mich in einen abgedunkelten Raum, ein Art Theater mit steil ansteigenden Rängen. Um mich herum sitzen andere Menschen, jedoch nicht in einem Umkreis von fünf Metern. Die Atmosphäre ist erwartungsvoll – und plötzlich flammt die Leinwand auf, TENET rollt ab auf zweieinhalb Stunden, die mich gebannt in den Sessel drücken:
„Kino“ nennen sie es, soso, mal schauen, wie der „Film“ so ist.

Christopher Nolans Actionkomödie TENET versagt auf ganzer Linie – als Komödie.
Zwar gab es Momente, die meine Spottlust kitzelten und mich schmunzeln ließen:
„Ach, da kloppen sie sich, jetzt wird wieder rumgeballert, wilde Verfolgungsjagd mit Autos, kurze Verschnaufpause mit romantischem Thema, nun prügeln sie sich, springen vom Hochhaus im Mumbai, kurze Schießerei und nochmal die Verfolgungsjagd mit Autos aus anderer Perspektive, na, meinetwegen.“

Auch wenn es also einer gewissen Komik nicht entbehrt, wenn Nolan uns fast beliebig und über lange Laufdauer hinweg Actionsequenz an Actionsequenz präsentiert (deren Inhalt teilweise generisch gerät), so ist TENET doch als reinrassiger Thriller zu rezipieren.

TENET ist eine 150 Minuten lange Hetzjagd, unterbrochen von kurzen Passagen des Dialogs.
Die Handlung dreht sich um eine Art Verschwörung aus der Zukunft: Die Akteure versuchen diese aufzudecken und zu zerschlagen.

Einer Auftaktsequenz in der Oper von Kiew (die Sie nicht verstehen werden, ich habe sie nicht verstanden) folgen noch etliche Szenen, die Sie ebenfalls nicht verstehen werden (ich habe sie nicht verstanden).

Zum Glück treffen wir schon in der vierten Szene (wenn ich richtig erinnernd zähle) eine Wissenschaftlerin, die uns wertvolle Hinweise gibt: Objekte aus der Zukunft gelangen mit umgekehrter, invertierter Entropie in unsere Gegenwart.

Was diese Objekte machen, welche Gefahr von ihnen ausgeht?
Ich habe keine Ahnung!
Aber die Wissenschaftlerin sagt: „Do not try to understand it.“
Die Geheimdienste haben einfach Angst, dass aus diesem Rumgepfusche mit Zeitlinien eine Bedrohung erwächst.

Do  not try to understand it!

 

Ich empfehle Ihnen diesen Satz dringend als Mantra zur Betrachtung von TENET. Mir hat’s direkt schon geholfen!

Die Bedrohung manifestiert sich nämlich und allmählich im kriminellen Waffenhändler und Oligarchen Andrej Sator, dem man nach und nach auf die Schliche kommt.
Doch zunächst muss man rankommen an diesen Finsterling, das dauert, wird in der Tat hübsch aufgebaut wie in einem erstklassigen Agentenfilm (J. B. lässt grüßen). Die unglückliche Ehefrau des Bösewichts, Kat, wird zur Kontaktperson und trägt auch die emotional-romantische Ebene des Films.

Wiese rede ich bislang noch nicht von der Hauptfigur?
Weil die Hauptfigur keinen Namen hat!
Sie wird – im Ernst – als „The Protagonist“ geführt.

John David Washington ist … „The Protagonist“!

 

Ich fange jetzt keine Schimpferei an, wie verblasen ich es finde, dass die Hauptfigur einen Meta-Namen bekommt, wenn alle anderen ganz normal benannt werden: Andrej, Kat, Kollege Neil – aber „The Protagonist“, bläbläblä.

Hießen die anderen „The Helper“, „The Lady“ und „Der Waffenhändlerschlumpf“, wär’s mir ja wurscht, aber solche Inkonsistenz verstehe ich nicht und finde sie nicht gerechtfertigt. (Zudem verrät diese Bezeichnung schon etwas vom Handlungskonzept, aber dazu nochmal gegen Schluss dieses Beitrags.)

Do  not try to understand it!

 

Was passiert denn nun in TENET? Ich hab „Hetzjagd“ gesagt, und Hetzjagd ist es:
Von der Ukraine geht es nach England, nach Indien, über Vietnam nach Italien, dann Norwegen, Estland bis zum Finale nach Afghanistan. Afghanistan? Oder ist es Sibirien?
Mein GPS hat bei dem  ganzen Gerüttel und Geschüttel den Geist aufgegeben.

Nochmal zur Handlung, so schwer mir das fällt:
Sator, der Bösewicht, hey, prima Name für einen Schurken: Sator.

Moment mal, Sator … Arepo … Tenet … Opera … Rotas.
Verdammich, Nolan hat das Sator-Quadrat in den Film geschmuggelt!

Linken Sie sich mal schnell hin.
Im Film taucht nicht nur ein „Sator“ auf, „Arepo“ ist der Name eines Malers, der Kat ein Kunstwerk verkauft hat. „Opera“ ist die Oper von Kiew, in der „Tenet“, der Film, beginnt. Und „Rotas“ heißt die Firma von Sator.

Das ist wahrscheinlich nur eine Meta-Spielerei, um TENET (immerhin wissen wir nun, was der kryptische Titel soll) noch eine mythische Dimension draufzusatteln. Macht sich immer gut.

Gott, was wollte ich sagen? Nolan macht einen konfus.
Sator, der Waffenhändler, besitzt Portale in die Zukunft, wo er sich Zugang zu brisanten Materialien verschafft. Also nicht Fotos von der Trump-Family privat, sondern waffenfähiges Plutonium and such … Das muss um jeden Preis verhindert werden.

Deshalb folgen ihm unsere Protagonisten (Plural, ha!) und geraten in invertierte Zeitströme, bewegen sich vor und zurück durch die Ereignisse der letzten Tage, laufen rückwärts, empfinden Feuer wie Eis – und wenn sie einen fahren ließen, wäre es richtig unangenehm.

Do  not try to understand it!

 

Am Rand bemerkt: Ich mochte die Filmmusik. Total abseitiges Argument jetzt hier, ich weiß, aber die Musik hielt mich weite Strecken bei Laune, ehrlich gesagt. Eine peitschende, treibende, bombastische Spannungsmusik, die eigentlich viel zu aufdringlich ist, aber mir hat sie gefallen, sie steht dem Film gut zu Gesicht.
(Und damit SIE merken, wie subjektiv Menschen Filme wahrnehmen: Kollege Cordemann will sie gar nicht bemerkt haben!)

Ich hätte gewettet, sie stamme von James Newton Howard, dem Komponisten der großartigen Eröffnungsszene von BATMAN DARK KNIGHT (auch Nolan).
Ist sie aber nicht, sie kommt von Ludwig Göransson, der auch BLACK PANTHER und THE MANDALORIAN vertonte. Wollnsemal reinhören?

Hier der Trailer zu TENET, Ohren auf!

Natürlich freut man sich (auch) an TENET. Es ist ein Spektakelfilm mit Ansage, und wenn es so schön umgesetzt wird wie von Nolan, dann kann man sich einfach mal in diesen Film hineinfallenlassen und genießen:
Den hinreißend inszenierten „Heist“ am Freeport von Oslo, wo sie ein Frachtflugzeug kapern, nur um es in eine Halle krachen zu lassen! Toll.
Den Überfall auf den Laster in Tallinn, den sie mit mehreren anderen Schwerfahrzeugen in die Zange nehmen und mühelos knacken. Wunderbar.
Und jede Minute wirkt, als habe das Team komplett auf CGI und Animationstricks verzichtet. Fein.

Christopher Nolan dreht Rätselfilm an Rätselfilm (und selten kann er seine Finger aus dem Zeitstrom lassen). Ob MEMENTO, THE PRESTIGE, INCEPTION, INSTERSTELLAR oder TENET –meine Befürchtung: Sie werden von Mal zu Mal unverständlicher.
Herrje, INCEPTION ist lockerer Unterhaltungsstoff verglichen mit TENET.

Ein wenig befremdet und geärgert hat mich dann doch (das Gefühl nimmt gegen Ende des Films zu) das „Geklaue“, die seltsamen Anleihen, die „Inspirationen“, die Nolan ungerührt in TENET eingemischt hat.
Die Menschen, die aus der Zukunft in die Vergangenheit eingreifen – das hat er doch aus TERMINATOR.
Die Weltuntergangsmaschine, die aus Einzelteilen zusammengesetzt wird (und hier „Algorithmus“ heißt, ein physischer Algorithmus zum Basteln, sehr albern, WTF), kennen wir noch neulich aus AVENGERS: INFINITY WAR. (Wenn das Thanos spitzkriegt, gibt’s aber Senge!)
Und im Moment fällt mir ein, dass „The Protagonist“ ein Gruß in Richtung des MATRIX-Franchises sein könnte.
Und es hätt‘ mich nicht gewundert, wenn noch irgendwie eine Marty-McFly-Figur samt Doc Brown aufgetaucht wäre …

Nicht invertiertes Fazit: TENET ist keinesfalls langweilig, macht gut Alarm, hat schönes Timing und verfügt über einen sehenswerten Cast: John David Washington und Robert Pattinson sind ein herrlich abgebrühtes Duo, Kenneth Branagh gibt einen wunderbar mürrischen Russen und Elizabeth Debicki war schon die Schau in der britischen Miniserie THE NIGHT MANAGER.

Lob natürlich an den Verleih Warner Brothers, der diese Vorführung möglich gemacht hat und den Filmstart wagt (gerüchtehalber auch auf Betreiben Nolans, der sein Werk im Kino sehen will).

Als ich den abgedunkelten Raum nach zweieinhalb Stunden verlasse, denke ich, dass dieses „Kino“ eine tolle Sache sein könnte. Dann müsste man es allerdings in großem Rahmen aufziehen: viele Säle, viele Filme, viele Menschen.
(Der Cinedom wird in Saal 4, zugelassen für 700 Personen, jedoch nur 100 platzieren. Sie spekulieren bitte selber, wie lange das finanziell gut gehen kann.)

Do  not try to understand it!

 

Vielleicht kommt ja noch Rettung aus der Zukunft: TENET deutet an, dass dort auf uns aufgepasst wird. Lassen sich Viren eigentlich invertieren? Hmmm.
Wir hoffen auf Auslastung der Filmpaläste mit dem Slogan: „Garantiert invertiert“.

Und das hier ist noch der „Final-Trailer“ zu TENET, anders als der obige: